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19. KAPITEL

Der Golfstrom

Diese fürchterliche Szene des 20. April wird niemand von uns je vergessen können. Ich habe sie unterm Eindruck heftigster Gemütsbewegung niedergeschrieben und später durchgesehen: meine Darstellung ist völlig genau, aber ausreichend als Schilderung nicht.

Der Schmerz von Kapitän Nemo war unermesslich. Nun hatte er schon den zweiten Genossen an Bord verloren. Und was für ein Tod! Zerdrückt, erstickt, zerfleischt von dem Ungeheuer, sollte er nicht auf dem stillen Friedhof des Korallenreichs seine Ruhestätte finden!

Mir war das Verzweiflungsgeschrei des Unglücklichen herzzerreißend gewesen. Die Todesangst hatte seine Muttersprache verraten. Ich hatte also einen Heimatgenossen unter der Kapitän Nemo mit Leib und Seele verbundenen Mannschaft! War er der einzige Repräsentant Frankreichs in der aus verschiedenen Nationalitäten gemischten Gesellschaft? Ein ungelöstes Rätsel, das mich unablässig quälte.

Kapitän Nemo zog sich in sein Zimmer zurück, und ich bekam ihn einige Zeit lang nicht zu sehen. Aber dass er traurig, verzweifelt, unentschlossen sein musste, gab mir das Fahrzeug, dessen Seele er war, zu erkennen. Die ›Nautilus‹ fuhr nicht mehr in einer bestimmten Richtung, sondern hin und her streifend, dem Spiel der Wellen überlassen wie ein Leichnam. Ihre Schraube war wieder frei, und doch gebrauchte sie sie kaum, segelte aufs Geratewohl.

So verliefen 10 Tage. Erst am 1. Mai setzte die ›Nautilus‹, nachdem sie die Lucayischen Inseln bis zur Mündung des Bahamakanals in Sicht bekommen, entschieden in nördlicher Richtung ihre Fahrt fort. Wir folgten darauf dem Laufe des Golfstroms, des größten Flusses im Meer, der seine Ufer, seine eigene Temperatur und Fische hat.

Es ist in der Tat ein Fluss, der mitten im Atlantik selbstständig fließt, ohne dass sein Wasser mit dem des Ozeans sich mischt. Dieser Fluss hat mehr Salzgehalt als das umgebende Meer. Seine durchschnittliche Tiefe beträgt 3.000 Fuß, seine mittlere Breite 60 Meilen.

An manchen Stellen fließt er mit einer Schnelligkeit von 4 Kilometer die Stunde. Der unveränderliche Umfang seiner Gewässer ist bedeutender als der aller Flüsse der Erde.

Die wahre Quelle des Golfstroms, wie sie der Kommandant Maury erkannte, sein Ausgangspunkt, wenn man will, liegt im Golf von Gascogne. Hier fangen seine Gewässer, an Temperatur und Farbe noch schwach, sich zu bilden an. Er fließt südwärts längs der afrikanischen Küste, wärmt seine Fluten in den Strahlen der heißen Zone, dann quer durch den Atlantik bis zum Kap San Roque an der brasilianischen Küste, wo er sich in zwei Arme teilt, von denen der eine in dem Antillenmeer sich noch satter zu erwärmen trachtet.

Nun beginnt der Golfstrom, der die Bestimmung hat, das Gleichgewicht zwischen den Temperaturen herzustellen und die tropischen Wasser mit den nördlichen zu mischen, seine ausgleichende Rolle. Mit gesteigerter Wärme zieht er aus dem mexikanischen Golf nordwärts den amerikanischen Küsten zu bis zu Neufundland, biegt beim Andrang der kalten Strömung aus der Davisstraße von jener Richtung ab und fließt wieder dem Ozean zu, indem er auf einem der großen Kreise der loxodromischen Linie folgt, teilt sich unter dem 43. Grad in zwei Arme, wovon der eine, unterstützt von den Passatwinden, zu dem Golf von Gascogne und den Azoren zurückkehrt und der andere, nachdem er die laue Temperatur der Küsten Islands und Norwegens veranlasst, bis über Spitzbergen hinaus, wo seine Wärme bis auf 4 Grad herabsinkt, fortströmt und das freie Meer des Polarlandes bildet.

Auf diesem Strom des Ozeans fuhr damals die ›Nautilus‹. Da wo er aus dem Bahamakanal herauskommt, bei 14 Lieue Breite und 350 Meter Tiefe, fließt der Golfstrom im Verhältnis von 8 Ki

lometer die Stunde. Diese Schnelligkeit nimmt regelmäßig ab im Verhältnis, wie er weiter nördlich kommt, und es ist zu wünschen, dass diese Regelmäßigkeit fortbestehe, weil, wenn, wie man zu bemerken glaubte, seine Schnelligkeit und Richtung sich ändern sollten, die europäischen Klimate Störungen ausgesetzt wären, deren Folgen nicht zu berechnen sind.

Gegen Mittag befand ich mich mit Conseil auf der Plattform und teilte ihm die Eigentümlichkeiten des Golfstroms mit. Darauf lud ich ihn ein, seine Hände in die Strömung zu tauchen.

Conseil folgte und war sehr erstaunt, dass er gar kein Gefühl von Wärme oder Kälte empfand.

»Das kommt daher«, sagte ich ihm, »dass der Wärmegrad der Wasser des Golfstroms beim Herausfließen aus dem mexikanischen Golf wenig von der Blutwärme verschieden ist. Der Golfstrom ist ein großer Wärmeleiter, der es den Küsten Europas ermöglicht, sich mit ewigem Grün zu schmücken. Und will man Maury Glauben schenken, so würde die Wärme dieses Stroms, vollständig benutzt, genügend Wärme liefern, um einen Strom von geschmolzenem Eisen, so groß wie der Amazonas oder Missouri, flüssig zu halten.«

In diesem Augenblick betrug die Geschwindigkeit des Golfstroms 2 Meter 25 in der Sekunde. Sein Wasser ist dergestalt von dem umgebenden Meer geschieden, dass es zusammengedrückt über den Ozean vorragt und ein anderes Niveau als das kalte Wasser annimmt. Außerdem sticht es, dunkel und reicher an Salzgehalt, durch seine rein indigoblaue Farbe von der grünen Der umgebenden Wasser ab. Bei Nacht ist es stark phosphoreszierend.

Dieser Strom zieht eine ganze Welt lebender Wesen mit sich fort. Die Argonauten wandern da scharenweise; Rochen finden sich von 25 Fuß Länge, und eine kleine Art Haifische, einen Meter lang, mit mehreren Reihen spitzer Zähne. In der unzähligen Menge von Knochenfischen sind manche eigentümliche, darunter eine Art Lippfische, die in allen Regenbogenfarben schimmernd mit den schönsten Vögeln der Tropengegenden wetteifern, und der sogenannte amerikanische Ritter, ein schöner Fisch, der sich ausnimmt, als sei er mit allen Ordensbändern der Welt geschmückt.

Am 8. Mai befanden wir uns noch dem Kap Hatteras gegenüber, auf der Höhe der Nord-Karolinen, wo der Golfstrom 75 Meilen breit und 210 Meter tief ist. Die ›Nautilus‹ fuhr fortwährend unstet aufs Geratewohl, es schien jede Überwachung zu fehlen. Unter diesen Umständen konnte ein Entweichen gelingen, und die bewohnten Uferlande boten überall leichte Zuflucht. Das Meer war unablässig von zahllosen Dampfern und kleinen Goéletten, die den Küstenverkehr besorgen, befahren, wo man Aufnahme zu finden hoffen konnte. Obwohl die Küste noch 30 Meilen entfernt, war diese Gelegenheit doch günstig.

Aber die sehr ungünstige Witterung machte doch die Ausführung der Pläne des Kanadiers durchaus unmöglich. Gewitter sind in diesen Strichen sehr häufig, und es ist da eine eigentliche Heimat der Wasserhosen, die eben durch den Golfstrom erzeugt werden. Diesem Meer mit einem zerbrechlichen Boot Trotz zu bieten war sicheres Verderben. Ned Land sah dies selbst ein und gab sich darein, ungeachtet eines bis zur Wut gediehenen Heimwehs, das nur durch die Flucht zu heilen war.

»Mein Herr«, sagte er zu mir in diesen Tagen, »es muss jetzt ein Ende haben, mein Gemüt muss davon frei werden. Ihr Nemo entfernt sich wieder vom Land und steuert dem Norden zu. Aber ich habe am Südpol satt bekommen und werde zum Nordpol nicht folgen.«

»Was ist zu machen, Ned, da ein Entweichen in diesem Moment unausführbar ist?«

»Ich komme wieder auf meinen Gedanken, dass man mit dem Kapitän reden muss. Als wir uns in den Meeren Ihrer Heimat befanden, haben Sie geschwiegen; jetzt, da wir meiner Heimat nah sind, will ich reden. In einigen Tagen wird die ›Nautilus‹ auf der Höhe Neuschottlands sein, wo sich bei Neufundland eine weite Bai öffnet, worin der St. Lorenz mündet, mein heimatlicher Fluss, an dem meine Geburtsstadt liegt. Wenn ich daran denke, steigt mir die Wut ins Gesicht, und meine Haare stehen zu Berge. Wissen Sie, mein Herr, ich stürze mich lieber ins Meer! Ich bleibe nicht hier!«

Der Kanadier hatte offenbar die Geduld gänzlich verloren. Seine lebenskräftige Natur konnte sich nicht in die stets fortgesetzte Ge

fangenschaft fügen. Seine Gesichtszüge änderten sich, sein Charakter wurde täglich finsterer. Ich fühlte, wie er leiden musste, denn auch mich befiel das Heimweh. Fast 7 Monate waren verflossen, ohne dass wir irgendetwas vom Land gehört hatten. Ferner die Absonderung von Kapitän Nemo, sein veränderter Humor, besonders seit dem Kampf mit den Ungeheuern, seine Schweigsamkeit, alles ließ mich die Dinge in ganz anderem Licht sehen. Mein Enthusiasmus der ersten Tage war vorüber. Nur ein Flame wie Conseil konnte sich in diese Lage fügen.

»Nun, mein Herr?« fuhr Ned Land fort, als ich nicht antwortete.»Nun, Ned, Sie wollen, dass ich Kapitän Nemo um seine Absichten in Hinsicht auf uns befrage?«

»Ja, mein Herr.«

»Und das, obwohl er sie bereits zu erkennen gegeben hat?«

»Ja. Ich will nun ein für alle Mal darüber im reinen sein. Sprechen Sie nur für mich allein, wenn Sie wollen.«

»Aber ich treffe ihn selten. Er meidet mich sogar.«

»Um so mehr Grund, ihn aufzusuchen.«

»Ich will ihm die Frage stellen, Ned.«

»Wann?« fragte der Kanadier dringend.

»Wenn ich ihn treffe.«

»Herr Arronax, wollen Sie, dass ich ihn selbst aufsuche?«

»Nein. Lassen Sie mich gewähren, morgen ...«

»Heute noch«, sagte Ned Land.

»Meinetwegen. Heute will ich ihn aufsuchen«, erwiderte ich dem Kanadier, denn wenn er selbst handelte, würde er gewiss alles verdorben haben.

Ned ließ mich allein. Da ich zu fragen beschlossen hatte, so wollte ich unverzüglich damit ins reine kommen. Besser getan, als noch zu tun.

Ich begab mich auf mein Zimmer. Hier hörte ich den Kapitän auf und ab gehen. Diese Gelegenheit, ihn zu treffen, durfte ich nicht vorüberlassen. Ich klopfte an seine Tür; keine Antwort. Ich klopfte abermals, drehte die Schlenke, und die Tür öffnete sich.

Ich trat ein. Der Kapitän war über seinen Arbeitstisch gebeugt;

er hatte mich nicht gehört. Entschlossen, nicht wieder fortzugehen ohne ihn zu fragen, trat ich zu ihm heran. Er hob rasch den Kopf, runzelte die Stirn und fuhr mich ziemlich barsch an.

»Sie hier! Was wollen Sie von mir?«

»Mit Ihnen reden, Kapitän.«

»Aber ich bin beschäftigt, mein Herr, ich habe zu arbeiten. Gönnen Sie mir doch auch die Freiheit, allein zu sein, die ich Ihnen lasse.«

Ein wenig ermutigender Empfang. Aber ich war entschlossen, alles anzuhören, um auf alles zu antworten.

»Mein Herr«, sagte ich kalt, »ich habe mit Ihnen etwas zu besprechen, was sich nicht aufschieben lässt.«

»Und was, mein Herr?« erwiderte er ironisch. »Haben Sie eine Entdeckung gemacht, die mir entgangen ist? Sind Sie auf neue Geheimnisse des Meeres gekommen?«

Unsere Rechnung stimmte bei Weitem nicht überein. Aber ehe ich noch antworten konnte, zeigte er mir ein auf dem Tisch liegendes Manuskript und sagte in ernstem Ton:

»Hier, Herr Arronax, ein Manuskript in mehreren Sprachen. Es enthält eine Übersicht meiner Studien über das Meer, und wenn Gott will, soll es nicht mit mir zugrunde gehen. Dieses Manuskript, von mir unterzeichnet, samt einem Abriss meiner Biografie, soll in ein kleines, unversenkbares Behältnis verschlossen werden. Wer von uns an Bord der ›Nautilus‹ die anderen überlebt, soll es ins Meer werfen, dass es die Wellen tragen, wohin sie treiben.«

Der Name dieses Mannes, seine selbst verfasste Lebensgeschichte, sein Geheimnis sollten also dereinst enthüllt werden? Doch im Augenblick sah ich in dieser Mitteilung nur einen Anlass, auf meinen Gegenstand zu kommen.

»Kapitän«, erwiderte ich, »ich kann die Idee, die Sie dazu bestimmt, nur billigen. Die Frucht Ihrer Studien darf nicht verloren gehen. Aber das Mittel, das Sie anwenden, scheint mir etwas naiv.

Wer weiß, wohin die Winde dieses Behältnis treiben werden? In welche Hände es geraten wird? Ließe sich dafür nichts Besseres finden? Könnten nicht Sie oder einer der Ihrigen ...?«

»Nein, mein Herr«, sagte der Kapitän lebhaft, mich unterbrechend.

»Aber ich und meine Genossen sind bereit, dies Manuskript aufzubewahren, und wenn Sie uns die Freiheit geben ...«

»Die Freiheit!« sagte Kapitän Nemo und stand auf.

»Ja, mein Herr, und deshalb kam ich, Sie zu befragen. Nun sind wir bereits 7 Monate an Bord Ihres Boots, und ich frage Sie heute, in meiner Genossen und meinem eigenen Namen, ob Ihre Absicht ist, uns ewig hier festzuhalten.«

»Herr Arronax«, sagte Kapitän Nemo, »ich antworte Ihnen heute wie vor 7 Monaten: Wer in die ›Nautilus‹ hineinkommt, darf sie nicht wieder verlassen.«

»Die Sklaverei wollen Sie uns also auferlegen!«

»Nennen Sie’s, wie Sie wollen.«

»Aber überall bleibt dem Sklaven das Recht, sich seine Freiheit wieder zu verschaffen! Er darf alle Mittel, die sich ihm bieten, für die richtigen halten.«

»Wer versagt Ihnen dieses Recht?« erwiderte der Kapitän, »habe ich je daran gedacht, Sie durch einen Eid zu binden?«

Der Kapitän blickte mich an und kreuzte die Arme.

»Mein Herr, es würde weder Ihnen noch mir behagen, nochmals über den Gegenstand zu reden. Da wir nun aber einmal davon zu reden angefangen haben, so lassen Sie ihn uns fertig besprechen.

Ich wiederhole Ihnen, es handelt sich nicht bloß um meine Person.

Für mich ist das Studium eine Stütze, eine Ableitung, eine Neigung, eine Leidenschaft, die mich alles vergessen lassen kann. Wie Sie bin ich imstande, ungekannt im Dunkeln zu leben, mit der unsicheren Hoffnung, das Ergebnis meiner Arbeiten dereinst, vermittels eines zweifelhaften den Wellen und Winden preisgegebenen Behältnisses, der Zukunft zu vermachen. Ich kann Sie bewundern, Ihnen ohne Unlust folgen. Aber ich sehe Ihr Leben von Verwicklungen umgeben, die uns fremd sind; und soviel wir auch Teilnahme hegen für Ihr Genie und Ihren Mut: wir fühlen uns hier fremd in Beziehung auf alles, was Sie betrifft; und das macht unsere Lage unerträglich, unmöglich, selbst für mich, geschweige für Ned Land.

Haben Sie sich gefragt, was Freiheitsliebe, Hass gegen Sklaverei, für

Racheentwürfe in einer Natur wie die des Kanadiers hervorrufen, was er denken, planen, versuchen kann ... ?«

Hier brach ich ab. Kapitän Nemo stand auf.

»Ned Land«, sagte er, »mag denken, planen, versuchen, was er will, was liegt mir daran? Ich habe ihn nicht aufgesucht! Ich halte ihn nicht zu meinem Vergnügen an Bord! Sie, Herr Arronax, können alles begreifen, selbst das Schweigen. Ich habe Ihnen nichts weiter zu erwidern. Lassen Sie dieses erste Wort, das Sie über diesen Gegenstand führten, auch das letzte sein, denn ein andermal würde ich Sie nicht einmal anhören.«

Ich zog mich zurück. Von diesem Tag an war unsere Lage sehr gespannt. Ich benachrichtigte meine Gefährten vom Inhalt unserer Unterredung.

»Wir wissen jetzt«, sagte Ned Land, »dass wir von diesem Mann nichts zu erwarten haben. Die ›Nautilus‹ kommt jetzt in die Nähe von Long Island. Wir wollen entfliehen trotz allem Unwetter.«

Aber das Wetter wurde immer drohender; die Vorzeichen eines bevorstehenden Orkans gaben sich kund. Die Atmosphäre wurde weißlich, milchfarben. Statt feiner Wolkengarben sah man am Horizont Schichten sich auftürmenden Gewölks; niedriger zog anderes in reißender Flucht. Das Meer schwoll an in hohlen Wogen; die Vögel verschwanden, mit Ausnahme der Sturmvögel. Das Barometer sank erheblich, und zeigte in der Luft eine äußerste Spannung der Dünste. Die Mischung im Wetterglas zersetzte sich unter Einwirkung der Elektrizität, wovon die Atmosphäre durchdrungen war. Der Kampf der Elemente stand kurz bevor.

Das Gewitter kam im Laufe des 18. Mai zum Ausbruch, gerade als die ›Nautilus‹ auf der Höhe von Long Island fuhr, einige Meilen von den Engen New Yorks. Kapitän Nemo, anstatt dem Sturm in der Tiefe des Meeres auszuweichen, zog es mit unbegreiflicher Laune vor, ihm an der Oberfläche Trotz zu bieten.

Der Wind wehte aus Südwest, anfangs sehr frisch, d.h. mit einer Geschwindigkeit von 15 Meter in der Sekunde, und stieg gegen 3 Uhr nachmittags bis auf 25, der Ziffer des Sturms.

Kapitän Nemo, gegen die Windstöße unerschütterlich, nahm seinen Platz auf der Plattform. Um dem Andringen ungeheurer

Wogen widerstehen zu können, hatte er sich mit halbem Körper angebunden; ich folgte seinem Beispiel, um diesen Sturm zu bewundern und zugleich den unvergleichlichen Mann, der ihm Trotz bot.Das entfesselte Meer wurde von großen Fetzen Gewölk, das in seine Fluten tauchte, wie mit Besen gefegt.

Von den kleinen mittleren Wellen, die sich innerhalb der großen Höhlungen bilden, sah ich nichts mehr: nichts als lange, rußfarbige Wogen, die so dicht sind, dass sich ihre Spitze nicht bricht. Sie nahmen an Höhe zu, türmten sich gegeneinander auf. Die ›Nautilus‹, bald auf der Seite liegend, bald wie ein Mast sich aufbäumend, schwankte und stampfte fürchterlich.

Gegen 5 Uhr fiel Regen wie ein reißender Bergstrom; aber er stillte weder den Wind noch das Meer. Der Orkan brach los mit einer Geschwindigkeit von 45 Metern pro Sekunde, d.h. etwa 40

Lieue in der Stunde. Bei solcher Stärke reißt er Häuser zu Boden, schleudert die Dachziegel durch die Türen, zerbricht eiserne Gitter, rückt Vierundzwanzigpfünder-Kanonen von der Stelle. Die

›Nautilus‹ trotzte diesem Sturm und rechtfertigte das Wort eines geschickten Ingenieurs: »Ein Schiff ist nicht richtig gebaut, wenn es dem Meer nicht Trotz bieten kann!« Es war wohl nicht ein Fels, den solche Wogen zertrümmert hätten; es war eine Spindel von Stahl, folgsam und beweglich, ohne Takelwerk und Masten, gefahrlos ihrer Wut trotzend.

Inzwischen beobachtete ich aufmerksam diese entfesselten Wogen. Sie waren bis zu 15 Meter hoch bei einer Länge von 150 bis 175 Meter, und die Geschwindigkeit, mit der sie sich fortschoben, der des Windes zur Hälfte entsprechend, betrug 15 Meter in der Sekunde. Ihr Umfang und ihre Stärke wuchsen mit der Tiefe der Gewässer.

Die Stärke des Sturms nahm beim Herannahen der Nacht zu.

Das Barometer sank bis auf 710 Millimeter. Mit dem Sinken des Tages gewahrte ich am Horizont ein großes Schiff, das fürchterlich ankämpfte.

Es war wohl ein Dampfer der Linie zwischen New York und Liverpool oder Havre.

Um 10 Uhr abends war der Himmel wie in Feuer und Flammen, die Atmosphäre von Blitzen durchzuckt. Ich konnte ihren blendenden Glanz nicht aushalten, während Kapitän Nemo mit unverwandtem Blick die Seele des Sturms in sich einzuatmen schien.

Ein entsetzliches Getöse füllte die Luft, ein zusammengesetztes aus dem Tosen der gebrochenen Wellen, dem Heulen des Sturmwinds,

dem Rollen des Donners. Der Wind sprang von allen Seiten des Horizonts über.

Ja! Dieser Golfstrom rechtfertigt wohl die Benennung König der Stürme! Er verursacht die fürchterlichen Wirbelwinde durch die Unterschiedlichkeit der Temperatur der Luftschichten, die sich über seiner Strömung befinden.

Auf den Platzregen folgte ein Feuerregen. Die Wassertropfen verwandelten sich in leuchtende Strahlenbüschel. Man hätte meinen sollen, Kapitän Nemo, nach einem Tod trachtend, der seiner würdig wäre, wolle vom Blitz getroffen werden. Bei einer schrecklichen Stampfbewegung streckte die ›Nautilus‹ ihren stählernen Schnabel in die Höhe wie den Schaft eines Blitzableiters, und ich sah lange Funken daraus sprühen.

Erschöpft an Kräften, rutschte ich auf plattem Leib der Luke zu, öffnete und stieg hinab in den Salon. Das Gewitter war eben auf dem Höhepunkt seiner Stärke. Im Innern der ›Nautilus‹ war es unmöglich, sich auf den Beinen zu halten.

Kapitän Nemo erschien gegen Mitternacht wieder. Ich hörte, wie die Behälter sich allmählich füllten, und die ›Nautilus‹ tauchte gemächlich unter die Oberfläche der Wellen.

Durch die unverdeckten Fenster des Salons sah ich große Fische voll Bestürzung, die wie Phantome in den feurigen Gewässern schwammen. Einige wurden vor meinen Augen vom Blitz getroffen!Die ›Nautilus‹ senkte sich fortwährend. Ich dachte, sie werde in einer Tiefe von 15 Meter wieder ruhiges Wasser finden. Nein. Die oberen Schichten waren zu sehr aufgeregt. Man musste die Ruhe bis in die Tiefe von 50 Meter aufsuchen.

Da aber, welche Ruhe, welche Stille, welche friedliche Umgebung! Wer hätte denken können, dass damals auf der Oberfläche dieses Ozeans ein furchtbarer Orkan sich entfesselte!

 

Reiseromane