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12. KAPITEL

Alles durch Elektrizität

»Hier sehen Sie, mein Herr«, sagte Kapitän Nemo, auf die an den Wänden seines Zimmers hängenden Instrumente hinweisend, »den für die Schifffahrt der ›Nautilus‹ erforderlichen Apparat. Ich habe sie hier, wie im Salon, stets unter den Augen, und sie zeigen mir genau, wo ich inmitten des Ozeans mich befinde und in welcher Richtung ich fahre. Einige sind Ihnen wohlbekannt wie Thermometer und Barometer, um die Temperatur und das Gewicht der Luft; das Hygrometer, um die Trockenheit der Atmosphäre zu bestimmen; das Wetterglas, um das Herannahen der Stürme anzukündigen; der Kompass, um mir die Richtung der Fahrt; der Sextant, um durch die Sonnenhöhe den Breitengrad zu zeigen; das Chronometer, um die Länge zu berechnen; und endlich die Fernrohre für Tag und Nacht, die mir dienen, um den Horizont an allen Punkten zu durchforschen, wann die ›Nautilus‹ sich an der Oberfläche befindet.«

»Das sind die gewöhnlichen, dem Seefahrer nötigen Instrumente«, erwiderte ich, »und ich kenne ihren Gebrauch. Aber da sind andere, die dienen ohne Zweifel den besonderen Bedürfnissen der ›Nautilus‹. Dies Zifferblatt mit dem beweglichen umlaufenden Zeiger ist wohl ein Manometer?«

»Jawohl, ein Manometer. Mit dem Wasser in Verbindung gebracht, zeigt es dessen äußeren Druck an, und dadurch die Tiefe, worin sich das Fahrzeug befindet.«

»Und das ist eine neue Art von Sonde?«

»Thermometrische Sonden, welche die Temperatur der verschiedenen Luftschichten angeben.«

»Und diese Instrumente, deren Gebrauch mir völlig unbekannt ist?«

»Hier, Herr Professor, muss ich Ihnen einige Erklärungen geben«, sagte Kapitän Nemo. Belieben Sie mich anzuhören.«

Nach einer kleinen Pause sagte er:

»Es gibt ein starkes, folgsames, rasches, williges, zu allem dienliches Agens, das an meinem Bord herrscht. Es leistet mir alles, beleuchtet, erwärmt, ist die Seele meiner mechanischen Werkzeuge.

Dieses Agens ist die Elektrizität.«

»Die Elektrizität!«, rief ich etwas überrascht.

»Ja, mein Herr.«

»Sie haben jedoch, Kapitän, eine außerordentliche Schnelligkeit der Bewegungen, die zu der Kraft der Elektrizität wenig passen.

Bisher ist ihre dynamische Kraft sehr beschränkt geblieben und hat nur geringe Wirkungen hervorzubringen vermocht!«

»Herr Professor«, erwiderte Kapitän Nemo, »meine Elektrizität ist nicht die, welche jedermann kennt; und das ist alles, was Sie mir Ihnen davon zu sagen gestatten wollen.«

»Ich will Ihnen nicht zusetzen, mein Herr, und mich begnügen, über ein solches Ergebnis sehr zu staunen. Eine einzige Frage jedoch erlauben Sie mir, die Sie, wenn Sie sie unbescheiden finden, nicht zu beantworten brauchen. Die Elemente, die Sie verwenden, um dieses wunderbare Agens hervorzubringen, müssen sich doch bald verbrauchen. Wie ersetzen Sie z. B. Zink, da Sie ohne Verbindung mit der Erde sind?«

»Ich will Ihre Frage beantworten«, erwiderte Kapitän Nemo.

»Fürs Erste will ich Ihnen sagen, dass es auf dem Grund des Meeres Zink-, Eisen-, Silber-, Goldminen gibt, deren Ausbeutung gewiss sehr ausführbar wäre. Aber ich habe von diesen Metallen der Erde nichts entliehen und von dem Meer selbst die Mittel für Erzeugung meiner Elektrizität gewinnen wollen.«

»Von dem Meer?«

»Ja, Herr Professor, und an Mitteln fehlt’s da nicht. Ich hätte zwar, indem ich Drähte aus verschiedenen Tiefen miteinander in Verbindung setzte, Elektrizität aus der Verschiedenheit der Temperaturen erzielen können, aber ich zog ein praktischeres System vor.«

»Und welches?«

»Sie kennen die Bestandteile des Meerwassers. Von 1.000 Gramm sind 96 1/2 Prozent Wasser, etwa 2 2/3 Chlorsodium; sodann in geringer Quantität Chlor-Magnesium und salzsaures Kali, Brom-Magnesium, schwefelsaures Magnesium, schwefelsaurer und kohlensaurer Kalk. Sie sehen also, dass Chlorsodium in ansehnlichem Verhältnis sich dabei befindet. Dieses Sodium nun ziehe ich aus dem Wasser und bereite daraus meine Elemente.«

»Sodium?«

»Ja, mein Herr. Mit Merkur vermischt, bildet es ein Amalgam, das bei den Bunsenschen Elementen das Zink ersetzt. Merkur verbraucht sich nie; nur das Sodium wird verzehrt, und dieses gewinne ich aus dem Meer unmittelbar. Ich bemerke Ihnen weiter, dass die Sodiumsäulen für weit energischer anzusehen sind und dass ihre elektrische Bewegkraft doppelt so stark ist als bei den Zinksäulen.«

»Ich begreife wohl, Kapitän, die Vortrefflichkeit des Sodiums in den Verhältnissen, worin Sie sich befinden. Das Meer enthält es.

Gut. Aber man muss es fabrizieren, herausziehen. Wie bewerkstelligen Sie das? Ihre Säulen könnten offenbar dazu dienen; aber irre ich nicht, so würde der für den elektrischen Apparat erforderliche Aufwand von ... Die gewonnene Quantität überwiegen. Es würde dann der Fall eintreten, dass Sie für die Erzeugung mehr verbrauchten, als Sie dadurch erzeugen!«

»Herr Professor, ich gewinne es auch nicht mittels der Säule und verwende ganz einfach die Wärme der Steinkohle.«

»Steinkohle?«, sagte ich bedeutsam.

»Sagen wir Meerkohle, wenn Sie wollen«, erwiderte Kapitän Nemo.

»Und Sie können unterseeische Kohlenminen ausbeuten?«

»Herr Arronax, Sie sollen sehen, wie ich’s anfange. Ich bitte nur um ein wenig Geduld, denn Sie haben ja Zeit, es geduldig abzuwarten. Behalten Sie nur im Sinn: Dem Meer verdank’ ich alles, es verschafft die Elektrizität, und diese gewährt der ›Nautilus‹ Wärme, Licht, Bewegung, kurz ihr Leben.«

»Aber doch nicht die Luft, die Sie einatmen?«

»Oh! Ich könnte die zu meinem Verbrauch nötige Luft fabrizieren, aber es ist nicht nötig, weil ich, wenn’s mir beliebt, an die Oberfläche des Meeres aufsteigen kann. Jedoch kann mir auch die Elektrizität nicht die zum Einatmen erforderliche Luft liefern, so treibt sie wenigstens gewaltige Pumpen, die sie in besondere Behälter einpressen, wodurch ich in den Stand gesetzt bin, meinen Aufenthalt in der Tiefe nach Bedürfnis oder nach Belieben zu verlängern.«

»Kapitän«, erwiderte ich, »ich kann nur bewundern. Offenbar haben Sie bereits gefunden, was die Menschen auch einmal auffinden werden, die wahre dynamische Kraft der Elektrizität.«

»Ich weiß nicht, ob sie sie entdecken werden«, erwiderte kalt Kapitän Nemo. »Wie dem aber auch sein mag, Sie kennen bereits die erste Anwendung, die ich von diesem schätzbaren Agens gemacht habe. Er leuchtet uns so gleichmäßig und andauernd wie das Sonnenlicht nicht. Jetzt, sehen Sie diese Uhr; sie ist elektrisch und geht so regelmäßig wie die besten Chronometer. Ich habe sie wie die italienischen Uhren in 24 Stunden geteilt, denn für mich existiert weder Nacht noch Tag, noch Sonnen- oder Mondlicht, vielmehr nur dieses künstlich erzeugte Licht, das ich bis auf den Meeresgrund mit mir nehme! Sehen Sie, in diesem Augenblick ist’s 10 Uhr vormittags.«

»Ganz richtig.«

»Eine andere Anwendung der Elektrizität. Dieses Zifferblatt vor unseren Augen gibt mir die Schnelligkeit der ›Nautilus‹ an. Ein elektrischer Draht bringt es in Verbindung mit der Schraube des Log, und sein Zeiger gibt mir die wirkliche Geschwindigkeit des Fahrzeugs an. Und, sehen Sie, in diesem Augenblick fahren wir mit der mäßigen Geschwindigkeit von 15 Meilen die Stunde.«

»Es ist wunderbar«, erwiderte ich, »und ich sehe wohl, Kapitän, dass Sie Grund hatten, dieses Agens zu gebrauchen, dem es bestimmt ist, Wind, Wasser und Dampf zu ersetzen.«

»Wir sind noch nicht fertig, Herr Arronax«, sagte Kapitän Nemo, indem er aufstand, »und wenn’s Ihnen beliebt, mich zu begleiten, wollen wir den hinteren Teil der ›Nautilus‹ auch besichtigen.«

In der Tat kannte ich jetzt den ganzen vorderen Teil des unterseeischen Boots, das von der Mitte aus nach vorne genau folgendermaßen eingeteilt war: der Speisesaal 5 Meter groß, von der Bibliothek durch eine wasserdichte Scheidewand getrennt, sodass kein Wasser eindringen konnte; die Bibliothek war 5 Meter groß, der Hauptsalon 10 Meter vom Zimmer des Kapitäns, das 5 Meter maß, durch eine abermalige wasserdichte Wand geschieden; das Meinige von 2 1/2 Meter; und endlich ein Luftbehälter, 7 1/2 Meter groß, erstreckte sich bis zum Hintersteven. Das machte im ganzen

35 Meter Länge aus. Die wasserdichten Scheidewände mit hermetischem Verschluss gewährten an Bord der ›Nautilus‹ völlige Sicherheit, im Fall ein Leck sich ergab.

Ich begleitete Kapitän Nemo durch die Gänge des vorderen Teils bis zum Mittelpunkt des Schiffs. Hier befand sich zwischen zwei wasserdichten Wänden eine Art Schacht, in dem eine an der Wand befestigte eiserne Leiter zur Mündung führte. Ich fragte den Kapitän, wozu diese Leiter diene.

»Sie endigt beim Boot«, war die Antwort.

»Wie? Sie haben ein Boot?« versetzte ich etwas erstaunt.

»Allerdings. Ein treffliches Fahrzeug, leicht und ohne unterzusinken, das uns zur Spazierfahrt und zum Fischen dient.«

»Aber dann müssen Sie zum Einsteigen sich auf der Meeresoberfläche befinden?«

»Keineswegs. Dieses Boot ist am oberen Teil des Schiffsrumpfs in einer dafür hergerichteten Aushöhlung befestigt. Es ist ganz mit Verdeck versehen, durchaus wasserdicht und mit soliden Bolzen gefügt. Diese Leiter nun führt zu einer im Rumpf der ›Nautilus‹ angebrachten Öffnung, die mit einer gleichen in der Seite des Boots in Verbindung steht, sodass ich durch diese doppelte Öffnung in das Fahrzeug gelange. Dann schließt man wieder die der ›Nautilus‹, und ich schließe hinter mir die des Boots vermittels Stellschrauben. Ich mache die Zapfen los, und das Fahrzeug steigt reißend schnell zur Meeresoberfläche auf. Dann öffne ich einen bisher sorgfältig verschlossenen Lukendeckel des Verdecks, richte einen Mast auf, hisse mein Segel oder nehme meine Ruder zur Hand und fahre spazieren.«

»Aber wie kommen Sie wieder an Bord zurück?«

»Ich komme gar nicht zurück, Herr Arronax, vielmehr die ›Nautilus‹ kommt wieder zu ihm.«

»Auf Ihren Befehl?«

»Auf meinen Befehl. Ein elektrischer Draht hält mich in Verbindung, und es bedarf nur eines Telegramms.«

»Wirklich«, sagte ich, entzückt von diesen Wundern, es gibt nichts Einfacheres!«

Nachdem ich an dem Behälter der zur Plattform führenden Leiter vorüber war, sah ich eine 2 Meter große Kabine, worin Conseil und Ned Land beschäftigt waren, ihr wohlschmeckendes Mahl munter zu verschlingen. Hierauf öffnete sich eine Tür zu der 3 Meter langen Küche, die zwischen den geräumigen Vorratskammern liegt.

Hier verrichtete die Elektrizität, energischer und williger als selbst das Gas, alle Bedürfnisse zum Kochen. Die Drähte, unter den Öfen angelangt, teilten Platinaschwämmen eine Wärme mit, die sich verteilte und regelmäßig andauerte. Sie heizte in gleicher Weise Destillierapparate, die durch Verdunstung ein vortreffliches Trinkwasser verschafften. Neben der Küche öffnete sich ein bequem eingerichteter Badesaal, worin die Hähne nach Belieben kaltes und warmes Wasser spendeten.

Auf die Küche folgte der Posten der Mannschaft, 5 Meter lang.

Aber die Tür war geschlossen, und ich konnte seine Einrichtung nicht sehen, woraus ich wohl die Anzahl der zur Bewegung der

›Nautilus‹ erforderlichen Männer hätte entnehmen können.

Eine vierte wasserdichte Scheidewand befand sich zwischen diesem Posten und dem Maschinenzimmer. Es öffnete sich eine Tür, und ich befand mich in diesem Gemach, wo Kapitän Nemo seine Werkzeuge für die Fortbeförderung aufgestellt hatte. Dieses klar beleuchtete Maschinenzimmer war nicht weniger als 20 Meter lang. Es teilte sich natürlich in zwei Abteilungen, erstens für die Elemente der Elektrizitätserzeugung und zweitens für die mechanische Einrichtung, um die Bewegung zur Schraube zu befördern.

Anfangs war ich betroffen über den eigentümlichen Geruch, der dieses Gemach erfüllte. Der Kapitän bemerkte es und sagte:

»Es ist nur einige Entwicklung von Gas durch die Anwendung des Sodiums; aber die Unannehmlichkeit ist nicht bedeutend, und zudem wird im Schiff täglich durch Ventilation die Luft erneuert.«Inzwischen besuchte ich mit leicht begreiflichem Interesse die Maschine der ›Nautilus‹.

»Sie sehen«, sagte Kapitän Nemo, »ich verwende Bunsensche Elemente, nicht Ruhmkorffsche. Diese würden zu schwach gewesen sein. Jene sind wenig zahlreich, aber stark und groß, was der

Erfahrung gemäß besser ist. Die erzeugte Elektrizität zieht sich nach hinten, wo sie durch sehr große Elektromagnete auf ein besonderes System von Hebeln und Rädergetrieben wirkt, welche die Bewegung auf die Welle der Schraube hinleitet. Diese, deren Durchmesser 6 Meter misst und das Gewinde 7 1/2 Meter, kann in einer Sekunde bis auf 120 Umdrehungen erzeugen.«

»Und damit erhalten Sie?«

»Eine Geschwindigkeit von 50 Meilen in der Stunde.«

Hier fand ein Geheimnis statt, aber ich bestand nicht darauf, es kennenzulernen. Wie wurde es möglich, dass die Elektrizität mit solcher Kraft wirkte? Woher entsprang diese fast unbegrenzte Kraft? Etwa aus einer übermäßigen Spannung durch eine neue Art von Wellen? Oder aus der Hinüberleitung, die durch ein System unbekannter* Hebel bis zum Unendlichen gesteigert werden konnte? Dieses war mir unbegreiflich. [* Eben gerade spricht man von einer Entdeckung dieser Art, indem ein neues System von Hebeln beträchtliche Kräfte entwickelt. Ist der Erfinder also Kapitän Nemo begegnet?]

»Kapitän Nemo«, sagte ich, »ich konstatiere die Ergebnisse und trachte nicht danach, sie zu erklären. Ich habe die ›Nautilus‹ im Angesicht der ›Abraham Lincoln‹ manövrieren gesehen und weiß, was es mit ihrer Geschwindigkeit für eine Bewandtnis hat. Aber das Vorwärtskommen reicht nicht aus. Man muss auch sehen, wohin man fährt! Man muss sich rechts und links, nach oben und unten hinwenden können! Wie erreichen Sie die großen Tiefen, wo ein zunehmender Widerstand stattfindet, der auf Hunderte von Atmosphären anzuschlagen ist? Wie steigen Sie wieder zur Oberfläche des Ozeans empor? Endlich, wie gelingt es Ihnen, sich in der Ihnen beliebigen Umgebung zu halten? Bin ich unbescheiden, indem ich diese Fragen an Sie richte?«

»Keineswegs, Herr Professor«, erwiderte der Kapitän nach kurzem Besinnen, »denn Sie dürfen ja doch niemals dieses unterseeische Boot verlassen. Kommen Sie nur in den Salon. Das ist unser eigentliches Arbeitszimmer, und da sollen Sie auch alles vernehmen, was Sie über die ›Nautilus‹ wissen dürfen!«

 

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