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7. KAPITEL

Das Mittelmeer in 24 Stunden

Das Mittelmeer, das vorzugsweise blaue Meer, von den Hebräern

»das große Meer«, von den Griechen »das Meer«, von den Römern

»unser Meer« genannt, ist an seinen Gestaden mit Orangen, Aloe, Kaktus, Pinien besetzt, von Myrtendüften durchdrungen, von rauem Gebirgsland eingefasst, von reiner, durchsichtiger Luft gesättigt; aber die unablässig tätigen unterirdischen Feuer machen es zu einem wahren Schlachtfeld, wo Neptun und Pluto sich noch um die Weltherrschaft streiten. An seinen Ufern, auf seinen Gewässern findet der Mensch im trefflichsten Klima der Welt seine stärkende Erholung.

Aber trotz dieser herrlichen Eigenschaften habe ich doch von diesem Becken, das eine Oberfläche von 2 Millionen Quadratkilometer enthält, nur einen raschen Überblick nehmen können; und selbst die persönlichen Kenntnisse von Kapitän Nemo gingen mir ab, denn der rätselhafte Mann ließ sich während der Eilfahrt nicht ein einziges Mal sehen. Ich schätze den Weg, den die ›Nautilus‹ unter den Wogen dieses Meeres durchlief, auf etwa 600 Lieue, und

diese Fahrt machte sie in 2 mal 24 Stunden. Wir fuhren am Morgen des 16. Februar aus den Gewässern Griechenlands ab, und am 18.

bei Sonnenaufgang hatten wir die Straße von Gibraltar passiert.

Offenbar war das Mittelmeer, eingeengt zwischen Ländern, die Kapitän Nemo meiden wollte, ihm kein angenehmer Aufenthalt.

Er hatte darin nicht jene Freiheit der Bewegungen, jene Unabhängigkeit seiner Unternehmungen, welche die Ozeane ihm gewährten, und es wurde seiner ›Nautilus‹ zu eng zwischen den allzu nahen Gestaden Europas und Afrikas. Daher fuhren wir denn auch mit einer Schnelligkeit von 25 Meilen die Stunde. Es versteht sich von selbst, dass dabei Ned Land auf sein Entweichungsprojekt verzichten musste. Unter solchen Umständen die ›Nautilus‹ verlassen, wäre so misslich gewesen, wie bei einem Eilzug aus dem Waggon zu springen. Zudem kam unser Fahrzeug nur nachts an die Oberfläche, um seine Luft zu erneuern, und es nahm seine Richtung nur nach den Angaben des Kompasses und des Logs.

Ich sah also vom Innern des Mittelmeers nur, was der Passagier eines Eilzugs von der Landschaft, die vor seinen Blicken entflieht, d.h. den entfernten Horizont, und nicht die Gegenstände im Vordergrund, die blitzschnell enteilen. Doch konnten wir manche der Mittelmeerfische beobachten, die kräftig genug waren, sich einige Augenblicke in der Umgebung der ›Nautilus‹ zu halten. Wir standen daher vor den Fenstern auf der Lauer und notierten, was uns möglich war.

In den vom elektrischen Licht hell erleuchteten Strichen sah man Lampreten, die in fast allen Klimaten zu Hause sind, von der Länge eines Meters; 5 Fuß breite Rochen mit weißem Bauch und aschgrauem geflecktem Rücken; 12 Fuß lange Haifische überboten sich einander in Schnelligkeit; 8 Fuß lange Seefüchse mit äußerst feiner Spürkraft; Goldbrassen, mitunter bis 13 Dezimeter lang, wie in Silber und lasurblauer Kleidung und mit goldenen Wimpern, eine kostbare Fischgattung, die in allen Gewässern, Flüssen, Seen und Meeren zu Hause, in jedem Klima fortkommt, alle Temperaturen verträgt. Prachtvolle Störe, 9 bis 10 Meter lang, mit bläulichem, braun getüpfeltem Rücken, schlugen mit kräftigem Schwanz gegen die Fenster. Sie sind den Haifischen ähnlich, doch nicht so stark,

und finden sich in allen Meeren; im Frühling kommen sie gern in die großen Flüsse stromaufwärts, die Wolga, Donau, den Po, Rhein, die Loire, die Oder hinauf, fressen Heringe, Makrelen, Salme u.a.; sie gehören zwar zu den Knorpelfischen, sind aber schmackhaft und werden frisch, getrocknet, mariniert oder gesalzen gegessen.

Am besten konnte man, wann die ›Nautilus‹ in die Nähe der Oberfläche kam, die Thunfische beobachten, mit blauschwarzem Rücken, silbergepanzertem Leib und Gold schimmernden Rückenflossen. Man sagt von ihnen, sie begleiten gern die Schiffe auf ihrer Fahrt, und suchten in ihrem kühlen Schatten Schutz gegen die tropischen Sonnenstrahlen; und so begleiteten sie auch stundenlang die ›Nautilus‹, an Schnelligkeit mit ihr wetteifernd. Ich konnte mich nicht sattsehen an diesen Tieren, die wie für die Schnellfahrt gebaut sind, mit kleinem Kopf, schlankem, glattem Leib, der mitunter über 3 Meter maß, ausnehmend kräftigen Brustflossen und gabelförmigem Schwanz. Sie schwammen im Triangel, wie manche Zugvögel fliegen, denen sie an Schnelligkeit gleichkommen. Doch den Provençalen entrinnen sie nicht, welche sie ebenfalls schmackhaft finden und sie zu Tausenden in großen Netzen fangen, indem sie blindlings, wie betäubt in diese hineingeraten.

Zahllos war die Menge der übrigen Fische, die wir nur flüchtig wahrnahmen oder bei der großen Schnelligkeit nicht beobachten konnten.

Von Seesäugetieren bemerkte ich im Vorüberfahren an der Mündung der Adria 2 bis 3 Pottfische; einige Delfine von der Gattung der kugelköpfigen, die besonders im Mittelmeer vorkommen, mit hell gestreiftem Vorderkopf; und auch ein Dutzend Robben mit weißem Bauch und schwarzem Hauthaar, denen man den Beinamen Mönche gab und die auch ganz wie Dominikaner aussehen.

Am Abend des 16. fuhren wir zwischen Sizilien und der Küste von Tunis. An dieser engen Stelle zwischen Kap Bon und der Straße von Messina erhebt sich der Meeresgrund fast plötzlich, sodass er einen Kamm bildet, über dem das Wasser nur 17 Meter Tiefe hat, während er auf beiden Seiten wieder bis zu 170 Meter abfällt. Die

›Nautilus‹ musste also mit Vorsicht fahren, um nicht gegen diese unterseeische Wand anzustoßen.

Ich zeigte Conseil auf der Karte des Mittelmeers die Stelle, wo dieses Riff sich befand.

»Erlauben Sie, mein Herr«, bemerkte Conseil, »das ist ja ein wahrhafter Isthmus zwischen Europa und Afrika.«

»Ja, lieber Junge«, erwiderte ich, »er versperrt völlig die Libysche Enge, und Smiths Sondierungen haben bewiesen, dass zwischen Kap Bon und Kap Furina die Kontinente ehemals zusammenhingen.«

»Ich glaub’s wohl«, sagte Conseil.

»Dazu will ich bemerken«, fuhr ich fort, »dass eine ähnliche Sperre zwischen Gibraltar und Ceuta besteht, die in der Urzeit das Mittelmeer völlig schloss.«

»Ah!« sagte Conseil, »wenn einmal durch eine vulkanische Einwirkung diese beiden Schranken wieder über die Meeresfläche emporgehoben würden!«

»Das ist nicht wahrscheinlich, Conseil.«

»Mein Herr möge mir noch die Bemerkung erlauben, wenn dieses vorginge, so wäre das dem Herrn von Lesseps, der sich mit dem Durchstich des Isthmus so viel Mühe gibt, recht unangenehm!«

»Gewiss, aber«, wiederholte ich, »dies Ereignis wird nicht eintreten. Die Wirkung der vulkanischen Kräfte unter der Erde nimmt stets ab. Die in der Urzeit der Welt zahlreichen Vulkane erlöschen nach und nach, die im Innern wirkende Wärme wird schwächer, die Temperatur der unteren Schichten des Erdballs wird von Jahrhundert zu Jahrhundert bedeutend niedriger, und zum Nachteil der Erde, denn diese Wärme ist ihr Leben.«

»Doch, die Sonne ...«

»Die Sonnenwärme ist nicht ausreichend, Conseil. Kann sie einen Leichnam sein Leben wiedergeben?«

»Nein, soviel ich weiß.«

»Nun, die Erde wird dereinst so ein kalter Leichnam sein. Sie wird unbewohnbar und unbewohnt sein wie der Mond, der längst seine Lebenswärme verloren hat.«

»In wie vielen Jahrhunderten?« fragte Conseil.

»In einigen Hunderttausend Jahren, mein Lieber.«

»Dann haben wir noch Zeit«, erwiderte Conseil, »unsere Reise zu vollenden, sofern Ned Land sich nicht darein mischt!«

Und Conseil machte sich ruhig wieder an das Studium der oberen Wasserschichten, durch die eben die ›Nautilus‹ mit mäßiger Schnelligkeit fuhr und wo auf felsigem und vulkanischem Grund eine ganze Flora lebender Gewächse, Schwämme, Holothurien usw.

sich ausbreitete. Nicht minder eifrig befasste er sich mit der Beobachtung der Mollusken und Gliedertiere und stellte ein langes Verzeichnis auf, womit ich aber doch den Leser verschonen will. Er war damit noch nicht fertig, als die ›Nautilus‹, nachdem sie über die Libysche Enge hinausgekommen, sich wieder tiefer auf den unteren Meeresgrund begab, wo es keine Mollusken und Zoophyten mehr gibt, und ihre gewöhnliche Schnelligkeit annahm.

Während der Nacht des 16. zum 17. Februar waren wir in das zweite Becken des Mittelmeers eingefahren, worin die größten Tiefen 3.000 Meter betragen; und die ›Nautilus‹ tauchte bis in die untersten Schichten hinab.

Hier boten, in Ermangelung von Naturmerkwürdigkeiten, die Gewässer den Anblick rührender und furchtbarer Szenen; denn auf diesem Teil des Mittelmeers sind am häufigsten Unglücksfälle eingetreten, durch Schiffbruch oder Versinken von Schiffen. In Vergleichung mit dem Pazifik ist das Mittelmeers nur ein See, aber ein launischer See mit tückisch wechselnden Wogen, heute günstig und schmeichelnd für eine zerbrechliche Tartane, morgen wütend aufgeregt, von Stürmen gepeitscht, die stärksten Schiffe zertrümmernd. Was hatte ich also bei der raschen Fahrt für eine Masse Trümmer vor Augen, mit Korallen oder Rost überzogen, Kanonen, Anker, Kugeln, Eisengeräte, Stücke von Maschinen, zerbrochene Zylinder, versenkte Kessel, Schiffsrümpfe in den verschiedensten Lagen.

Solche Trümmer waren zahlreicher, je näher man der Enge von Gibraltar kam, der Raum zwischen der afrikanischen und europäischen Küste sich verengte. Die ›Nautilus‹ fuhr mit reißender Schnelligkeit gleichgültig über sie alle hinweg, und langte am 18. Februar um 3 Uhr früh beim Eingang der Straße an.

Hier gibt’s zwei Strömungen: die obere, die längst bekannt ist, führt die Gewässer aus dem Ozean in das Becken des Mittelmeers, sodann eine tiefer in entgegengesetzter Richtung, deren Existenz nun durch Folgerungen bewiesen ist. In der Tat sollte die Gesamtmasse der Mittelmeergewässer, die durch die des Atlantiks und durch die einmündenden Flüsse unaufhörlich anwächst, alljähr

lich ihr Niveau erhöhen, denn die Ausdunstung ist nicht in gleichem Grad wirksam, um ein Gleichgewicht herzustellen. Nun ist aber dem nicht so, und hieraus hat man geschlossen, dass in tieferen Schichten eine Gegenströmung den Überschuss der Mittelmeergewässer durch die Enge von Gibraltar wieder in das Atlantische Becken führe.

Und genauso ist’s wirklich. Die ›Nautilus‹ fuhr mit dieser Strömung sehr rasch durch die Enge. Einen Augenblick Zeit hatte ich, um die Ruinen des Herkulestempels zu bewundern, der nach Plinius und Avienus samt der niedrigen Insel, worauf er stand, einst versunken ist. Einige Minuten darauf schwammen wir auf den Wogen des Atlantiks.

 

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