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17. KAPITEL

Ein unterseeischer Wald

Endlich waren wir am Saum dieser Waldung angekommen, die ohne Zweifel zu den schönsten der ungeheuren Besitzung von Kapitän Nemo gehörte. Er sah sie als sein eigen an und übte darüber dieselben Rechte, welche die ersten Menschen in den ersten Tagen der Welt hatten. Übrigens, wer hätte ihm den Besitz dieses unterseeischen Eigentums streitig gemacht?

Dieser Wald bestand aus großen baumartigen Pflanzen, und sobald wir unter seine umfassenden Wölbungen kamen, fiel mir sogleich eine eigentümliche Beschaffenheit ihrer Gezweige auf, wie ich sie bisher noch nicht beobachtet hatte.

Keines von den Kräutern des Bodens, keiner von den Zweigen der Gebüsche rankte, bog sich oder wuchs in horizontaler Richtung. Sie stiegen alle aufwärts dem Meeresspiegel zu. Die dünnsten, faden- und bandartigen Pflanzen hielten sich gerade aufrecht, als seien die Stängel von Eisen. Schlingpflanzen und Meergräser nahmen beim Aufwachsen eine streng senkrechte Richtung, wie sie die Dichte des Elements vorschrieb. Sonst unbeweglich, nahmen sie, wenn ich sie mit der Hand auseinanderschob, sogleich ihre frühere Lage wieder ein.

Ich gewöhnte mich bald an diese sonderbare Neigung zum Senkrechten, wie an das verhältnismäßige Dunkel um uns her. Der Boden des Waldes war mit spitzen Blöcken bedeckt, denen man nicht leicht ausweichen konnte. Die unterseeische Flora schien mir sehr vollständig zu sein, reicher sogar als unter den arktischen und tropischen Zonen, wo die Produkte aus dem Pflanzenreich minder zahlreich sind. Aber einige Minuten lang verwechselte ich unwillkürlich das Tierreich mit dem Pflanzenreich, Pflanzentier mit Wasserpflanzen. Fauna und Flora stehen in der unterseeischen Welt dicht nebeneinander!

Ich machte die Beobachtung, dass alle diese Produkte des Pflanzenreichs am Boden nur in einer dünnen Teigschichte hafteten.

Ohne Wurzel, ohne Zusammenhang mit dem festen Körper, Sand, Muschel- oder Kieselgeröll, das die Unterlage bildet, begehren sie

von diesem nur einen Stützpunkt, nicht die Lebensquelle. Diese Pflanzen gehen aus sich selbst hervor, und das Prinzip ihres Daseins liegt im Wasser, das ihnen Kraft und Nahrung gewährt. Die meisten trieben, anstatt Blätter, nur bandartige Streifen von grillenhaften Formen, umgrenzt von einer schmalen Farbenborte, die nur Rosa, Carmin, Grün, Olivenfarbig, Falb und Braun enthielt.

Eine Menge dieser Seepflanzen sind ganz ohne Blüten. »Merkwürdige Regelwidrigkeit, seltsames Element«, sagt ein geistreicher Naturforscher, »wo das Tierreich Blüten treibt, das Pflanzenreich nicht!«

Unter diesen verschiedenen Gesträuchen, die so groß sind wie die Bäume der gemäßigten Zone, und unter ihrem feuchten Schatten befanden sich massenweise wahre Gebüsche lebendiger Pflanzen, Hecken von Pflanzentieren, und, was die Täuschung vollends beförderte – die Mückenfische flogen von Zweig zu Zweig, wie ein Schwarm Kolibris, während andere wie ein Trupp Bekassinen unter unseren Schritten aufzufliegen schienen.

Gegen 1 Uhr gab Kapitän Nemo das Zeichen zum Halt. Ich meinesteils war wohl zufrieden damit, und wir streckten uns nieder.

Dieses Ausruhen schien mir köstlich, nur mangelte uns die Unterhaltung, denn das Anreden war so unmöglich als das Erwidern. Ich näherte nur meinen dicken Kupferkopf dem Conseils. Ich sah bei diesem wackeren Jungen die Augen glänzen vor Befriedigung, und um es kundzugeben, machte er in seiner Schale höchst komische Bewegungen.

Nach einem 4stündigen Spaziergang war ich sehr erstaunt, dass ich nicht heftigen Hunger empfand. Woher diese Stimmung des Magens kam, konnte ich nicht sagen, dagegen spürte ich eine unüberwindliche Neigung zum Schlafen, wie das bei allen Tauchern der Fall ist. Daher schlossen sich auch alsbald meine Augen hinter ihrem dichten Glas, und ich sank in eine unwiderstehliche Schlaftrunkenheit, die bisher nur durch die Bewegung des Gehens zu bekämpfen möglich war. Kapitän Nemo nebst seinem kräftigen Genossen gaben uns hingestreckt im klaren Wasser das Beispiel zum Schlafen.

Wie lange ich in diesem Schlummer lag, konnte ich nicht schät

zen; aber als ich aufwachte, schien mir die Sonne schon sich zum Horizont zu neigen. Kapitän Nemo war bereits aufgestanden, und ich fing an die Glieder zu strecken, als eine unerwartete Erscheinung mich rasch auf die Beine brachte.

Einige Schritte weit war eine riesenhafte, einen Meter hohe Meeresspinne, die bereit mich zu überfallen mit schielenden Augen mich ansah. Obwohl mein Skaphanderkleid dick genug war

zum Schutz gegen die Bisse dieses Tieres, so konnte ich mich doch des Grauens nicht erwehren. In dem Augenblick erwachten Conseil und der Matrose der ›Nautilus‹. Kapitän Nemo zeigte diesen das hässliche Tier, er streckte es mit einem Kolbenschlag augenblicklich nieder, und ich sah die fürchterlichen Füße des Ungeheuers in grässlichen Zuckungen sich winden.

Dieses Begegnen erregte bei mir den Gedanken, dass andere, furchtbarere Tiere in diesen dunkeln Gründen hausen könnten, gegen deren Angriff mein Skaphander mich nicht schützen würde.

Bisher hatte ich nicht daran gedacht, und ich beschloss auf meiner Hut zu sein. Ich vermutete übrigens, dass hier unser Spaziergang sich endigen würde; aber ich täuschte mich, Kapitän Nemo setzte seinen kühnen Ausflug fort.

Der Boden wurde immer niedriger, und sein stärkerer Abhang führte uns in größere Tiefen hinab. Es musste etwa 3 Uhr sein, als wir in ein enges Tal zwischen hohen steilen Wänden kamen, in einer Tiefe von ungefähr 150 Meter. Die Vorzüglichkeit unserer Apparate machte es möglich, dass wir so 90 Meter über die Linie hinausgelangten, die bisher die Natur selbst den unterseeischen Unternehmungen als Grenze gesteckt zu haben schien.

Ich sagte 150 Meter, obschon ich kein Instrument hatte, diese Distanz zu messen. Aber ich wusste, dass selbst in den Meeren vom klarsten Wasser die Sonnenstrahlen nicht tiefer dringen konnten.

Nun wurde es aber völlig dunkel; man konnte nicht mehr auf 10

Schritte einen Gegenstand erkennen. Indem ich tastend vorwärtsschritt, sah ich auf einmal ein weißes lebhaftes Licht erglänzen. Kapitän Nemo hatte seinen elektrischen Apparat in Tätigkeit gesetzt.

Sein Genosse machte es ihm nach, und ich folgte nebst Conseil ihrem Beispiel. Durch Drehen einer Schraube stellte ich die Verbindung der Induktionsröhre mit der gläsernen Serpentine her, und das Meer wurde durch unsere vier Laternen bis auf 25 Meter weit im Umkreis erleuchtet.

Kapitän Nemo drang immer weiter in die Tiefen des Waldes, dessen Gesträuche allmählich seltener wurden. Ich bemerkte, dass das vegetale Leben weit schneller abnahm, als das animale. Die Meerpflanzen verließen bereits den trocken gewordenen Boden,

während eine erstaunliche Menge von Tieren, Zoophyten, Wirbeltieren, Mollusken und Fischen dort wimmelte.

Während wir vorwärtsschritten, fiel mir ein, dass das Licht unserer Ruhmkorffapparate notwendig manche Bewohner dieser dunklen Schichten herbeilocken würde. Sie kamen uns zwar nah, hielten sich aber doch in einer Entfernung, die für Jäger nicht angenehm war. Manchmal bemerkte ich, dass Kapitän Nemo stehen blieb und sein Gewehr anlegte; dann, nachdem er eine Weile beobachtet, setzte er seinen Weg fort.

Endlich, etwa gegen 4 Uhr, fand dieser merkwürdige Ausflug sein Ziel. Eine Wand prachtvoller Felsen von imponierender Masse ragte vor uns empor, riesenhafte Blöcke übereinandergetürmt, ein ungeheurer steiler Granitabhang mit dunklen Grotten, der aber keinen Aufgang, auf dem man irgend fortkommen konnte, bot.

Kapitän Nemo machte plötzlich halt. Mit einem Wink hemmte er unsere Schritte, und sosehr ich gewünscht hätte, über diese Gebirgswand hinaus zu kommen, musste ich mich darein ergeben. Die Besitzungen Kapitän Nemos hatten hier ein Ende. Darüber hinaus wollte er nicht.

Es begann also der Rückweg. Kapitän Nemo hatte sich wieder an die Spitze seiner kleinen Schar gestellt und schritt sicher, ohne sich zu besinnen, voran. Ich glaubte wahrzunehmen, dass wir nicht den gleichen Weg einschlugen, um wieder zur ›Nautilus‹ zu kommen. Dieser neue, sehr steile und folglich mühevolle Weg brachte uns rasch in die Nähe der Meeresoberfläche. Doch geschah diese Rückkehr in die oberen Schichten nicht so rasch, dass der Druck von oben zu stark gewesen wäre, was in unserm Organismus bedenkliche Störungen hätte veranlassen und innere Verletzungen verursachen können, wie sie den Tauchern so nachteilig sind. Sehr bald kam wieder das Sonnenlicht zum Vorschein und nahm zu, und da die Sonne bereits niedrig stand, so wurden durch die Brechung der Strahlen die Gegenstände abermals mit einem bunten Rand umgeben.

Bei 10 Meter Tiefe wandelten wir inmitten eines Schwarms kleiner Fische aller Art, die zahlreicher waren als die Vögel in der Luft,

auch weit beweglicher; aber ein Wildbret, das eines Schusses würdig gewesen wäre, war uns noch nicht aufgestoßen.

In dem Augenblick sah ich, wie Kapitän Nemo lebhaft die Büchse anlegte und auf einen beweglichen Gegenstand im Gebüsch zielte. Der Schuss ging los, ich hörte ein schwaches Pfeifen, und ein Tier fiel in einer Entfernung von einigen Schritten nieder.

Es war ein prächtiger Seeotter, das einzige vierfüßige, nur im Meer lebende Tier. Dieses war ein und einen halben Meter lang.

Sein Fell, oben braun und unten silberfarben, bildet einen der geschätztesten und gesuchtesten Artikel auf dem russischen und chinesischen Pelzmarkt, der mindestens 2.000 Franc gilt. Ich bewunderte das merkwürdige Säugetier mit rundem Kopf und kurzen Ohren, runden Augen, weißen Schnauzborsten, wie die Katzen haben, handförmigen Füßen mit Krallen und buschigem Schwanz.

Dieser kostbare Fleischfresser, von den Fischern aufgetrieben und verjagt, wird äußerst selten, hat sich besonders in die nördlichen Gegenden des Pazifiks geflüchtet, wo die Gattung wahrscheinlich bald aussterben wird.

Der Genosse von Kapitän Nemo nahm das Tier auf seine Schulter, und wir setzten unseren Weg fort.

Eine Stunde lang hatten wir eine Sandebene vor uns. Sie erhob sich oft bis auf 2 Meter unter dem Wasserspiegel. Dann sah ich unser Bild in klarem Wiederschein umgekehrt gezeichnet, und über uns zeigte sich eine ganz gleiche Truppe, die unsere Bewegungen abspiegelte, so wie wir gingen, nur Kopf unten, Füße in der Luft.

Ich hatte damals Gelegenheit, einen der schönsten Schüsse zu beobachten, die je einem Jäger das Herz erfreuten. Ein großer Vogel mit weit ausgespannten Flügeln, der sehr deutlich zu erkennen war, streifte mit schwebenden Fittichen nah über dem Wasser. Des Kapitäns Genosse legte auf ihn an und schoss ihn, als er einige Meter über den Wogen sich befand. Getroffen sank das Tier herab, dass der gewandte Jäger es greifen konnte und mit sich nahm. Es war ein Albatros der schönsten Sorte.

Dieser Zwischenfall unterbrach nicht unseren Weg. 2 Stunden lang gingen wir bald auf Sandflächen, bald auf Wiesen von Meergras, worauf schwer fortzukommen war. Offen gestanden, ich war erschöpft, als ich einen schwachen Lichtschein gewahrte, der eine halbe Meile weit durch die dunklen Gewässer drang. Es war die Leuchte der ›Nautilus‹. Vor Ablauf von 20 Minuten mussten wir an Bord sein, wo ich wieder aufatmen konnte, denn mein Behälter schien mir eine Luft mit wenig Sauerstoff zu gewähren.

Aber es begegnete uns noch ein anderes Ereignis, das uns ein wenig aufhielt.

Ich war etwa 20 Schritt zurückgeblieben, als ich Kapitän Nemo hastig auf mich zukommen sah. Mit kräftiger Hand bog er mich nieder zur Erde, während sein Genosse es ebenso mit Conseil machte. Anfangs wusste ich nicht recht, was ich von dem barschen

Anfall denken sollte, aber ich beruhigte mich, als ich sah, dass der Kapitän sich neben mich legte und sich unbeweglich hielt.

Ich lag also der Länge nach auf dem Boden und oben geschützt von einem Büschel Seegras, als ich den Kopf aufrichtete und bemerkte, wie ungeheure Massen mit lautem Getöse und phosphoreszierendem Schein vorüberzogen.

Das Blut erstarrte mir in den Adern! Es waren fürchterliche Haifische mit ungeheurem Schwanz und düsteren glasartigen Augen, die einen phosphoreszierenden Stoff absondern, der durch Löcher um das Maul herumträufelt. Diese Ungeheuer konnten in ihren eisernen Rachen einen ganzen Menschen zerbröckeln!

Zu unserem Glück haben diese gefräßigen Tiere kein scharfes Gesicht. Sie tosten vorüber, ohne uns zu bemerken, streiften uns nur mit ihren bräunlichen Flossen, und wir entkamen wie durch ein Wunder einer Gefahr, die gewiss größer war, als wenn man einem Tiger im Walde begegnet.

Eine halbe Stunde nachher, geleitet von dem elektrischen Lichtstrahl, langten wir bei der ›Nautilus‹ an. Die äußere Tür war offen geblieben, und Kapitän Nemo schloss sie wieder, sobald wir in das vordere Kämmerchen getreten waren. Darauf drückte er auf einen Knopf. Ich hörte die Pumpen im Schiff arbeiten, fühlte, wie das Wasser um mich herum sank, und in einigen Augenblicken war die Zelle ganz leer. Nun öffnete sich die innere Tür, und wir kamen in die Kleiderkammer.

Hier wurde uns, nicht ohne Beschwerde, die Skaphanderkleidung abgezogen, und ich begab mich, sehr abgemüdet, der Erschöpfung und dem Schlaf erliegend, wieder in mein Zimmer, voll Staunen über diesen merkwürdigen Ausflug auf dem Meeresgrund.

 

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