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9. KAPITEL

Ein verschwundener Kontinent

Am folgenden Morgen, dem 19. Februar, trat der Kanadier in mein Zimmer. Ich erwartete seinen Besucht. Seine Miene war sehr herabgestimmt.

»Nun, mein Herr«, sagte er zu mir.

»Nun, Ned, der Zufall ist gestern uns nicht günstig gewesen.«

»Ja! Der verdammte Kapitän musste gerade zu der Stunde anhalten, da wir im Begriff waren, von seinem Fahrzeug zu entweichen.«

»Ja, Ned, er hatte Geschäfte bei seinem Bankier.«

»Seinem Bankier!«

»Oder vielmehr bei seinem Bankhause. Ich verstehe darunter diesen Ozean, wo seine Schätze sicherer aufgehoben sind, als sie’s in den Staatskassen wären.«

Ich erzählte darauf dem Kanadier, was am Abend zuvor sich begeben hatte, in der stillen Hoffnung, ihn auf den Gedanken zu bringen, den Kapitän nicht zu verlassen; aber meine Erzählung

hatte nur den Erfolg, dass Ned energisch sein Bedauern aussprach, dass er nicht auf eigene Rechnung einen Ausflug auf den Kampfplatz von Vigo hatte machen können.

»Kurz«, sagte er, »es ist noch nicht aller Tage Abend! nur ein vergeblicher Wurf der Harpune! Ein andermal wird’s glücken, und gleich diesen Abend, wenn es sein muss ...«

»In welcher Richtung fährt die ›Nautilus‹?« fragte ich.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Ned.

»Nun denn! So werden wir zu Mittag die Aufnahme sehen.«

Der Kanadier kehrte zu Conseil zurück. Sobald ich angekleidet war, begab ich mich in den Salon. Der Kompass beruhigte nicht.

Die ›Nautilus‹ fuhr in südsüdwestlicher Richtung. Wir kehrten Europa den Rücken.

Ich wartete mit einiger Ungeduld, bis die Aufnahme geschah.

Gegen halb 12 entleerten sich die Behälter, und unser Fahrzeug stieg zur Oberfläche des Ozeans auf. Ich eilte auf die Plattform.

Ned Land war mir schon zuvorgekommen.

Es war kein Land mehr in Sicht. Auf der unermesslichen Meeresfläche zeigten sich nur einige Segel am Horizont, ohne Zweifel von solchen, die bis zum Kap Roque die günstigen Winde zur Fahrt um das Kap der Guten Hoffnung herum suchen. Es war bedeckter Himmel; ein Windstoß bereitete sich vor.

Ned versuchte voll Zorn den nebeligen Horizont zu durchdringen. Er hoffte noch, dass hinter diesem Nebel sich das so ersehnte Land zeigen werde.

Um 12 Uhr schien die Sonne einen Augenblick durch. Der Lieutenant benutzte diesen hellen Zeitpunkt, um die Höhe aufzunehmen. Darauf, als das Meer unruhiger wurde, stiegen wir wieder hinab, und die Luke wurde wieder geschlossen.

Als ich eine Stunde nachher auf die Karte sah, bemerkte ich, dass die Lage der ›Nautilus‹ darauf eingetragen war mit 16° 17ʹ Länge und 33° 22ʹ Breite, 150 Lieue von der nächsten Küste entfernt. An ein Entweichen konnte man nicht mehr denken, und man kann sich den Zorn des Kanadiers vorstellen, als ich ihm zu erkennen gab, wo wir uns befanden.

Ich meinesteils war nicht übermäßig untröstlich. Ich fühlte gleichsam eine lastende Bürde mir abgenommen, und ich konnte mich mit einer gewissen Ruhe wieder zu meiner gewohnten Beschäftigung wenden.

Am Abend gegen 11 Uhr erhielt ich ganz unerwartet den Besuch von Kapitän Nemo. Er fragte mich sehr höflich, ob ich mich von dem Wachen in der vorigen Nacht ermüdet fühle. Ich sagte nein.

»Dann, Herr Arronax, will ich Ihnen einen merkwürdigen Ausflug vorschlagen.«

»Tun Sie das, Kapitän.«

»Sie haben den Meeresgrund noch nicht anders besucht als bei Tag und Sonnenschein. Würde es Ihnen gefallen, ihn in dunkler Nacht zu sehen?«

»Recht gern.«

»Dieser Spaziergang wird ermüdend sein, sag ich zum Voraus.

Man muss weit gehen und einen Berg hinauf. Die Wege sind nicht sehr gut gebahnt.«

»Was Sie da sagen, Kapitän, erhöht nur meine Neugierde.

Ich bin bereit, Sie zu begleiten.«

»Nun, so kommen Sie, Herr Professor, um unsere Skaphander anzuziehen.

Als wir im Ankleidezimmer waren, sah ich, dass weder meine Gefährten noch irgendjemand von der Bemannung uns bei diesem Ausflug begleiten sollte. Der Kapitän hatte mir nicht einmal vorgeschlagen, Ned oder Conseil mitzunehmen.

In einigen Augenblicken waren wir angezogen. Man gab uns reichlich mit Luft versehene Behälter auf den Rücken, aber die elektrischen Lampen waren nicht in Bereitschaft. Ich bemerkte es dem Kapitän.

»Sie würden uns unnütz sein«, erwiderte er.

Ich glaubte missverstanden zu haben, aber ich konnte meine Bemerkung nicht wiederholen, denn der Kopf des Kapitäns war schon in seiner Metallumhüllung verschwunden. Ich legte meinen Panzer vollständig an und fühlte, dass man mir einen beschlagenen Stock in die Hand gab, und nach einigen Minuten fassten wir Fuß auf dem Grund des Atlantiks in einer Tiefe von 300 Meter.

Es war bald Mitternacht und die Gewässer in tiefem Dunkel, aber Kapitän Nemo zeigte mir in der Ferne einen rötlichen Punkt, einen weithin leuchtenden Schimmer, der etwa 2 Meilen von der

›Nautilus‹ entfernt glänzte. Was es für ein Feuer war, wodurch genährt, weshalb und wie es in der Wassermasse sich wiederbelebte, hätte ich nicht sagen können. Jedenfalls leuchtete es uns, obwohl unbestimmt; aber ich gewöhnte mich bald an dies eigentümliche Dunkel; und ich begriff, wie unnütz unter diesen Umständen der Ruhmkorffsche Apparat gewesen wäre.

Wir schritten also nebeneinanderher, gerade auf das bezeichnete Feuer los. Der ebene Boden stieg unmerklich. Wir machten mithilfe des Stocks große Schritte; aber im ganzen kamen wir langsam vorwärts, denn unsere Füße blieben oft in einer Art Schlamm stecken, der mit Algen durchknetet und mit flachen Steinen bedeckt war.

Während des Voranschreitens vernahm ich über meinem Kopf ein gewisses Rieseln. Dieses Geräusch wurde mitunter stärker und erzeugte gleichsam ein anhaltendes Knistern. Die Ursache wurde mir bald klar. Es war der Regen, der ungestüm und prasselnd auf die Oberfläche fiel. Es kam mir instinktartig das Gefühl, als würde ich durchnässt! Vom Wasser mitten im Wasser! Ich konnte nicht umhin, über den närrischen Gedanken zu lachen. Aber unter dem dichten Skaphanderkleid fühlt man das nasse Element nicht mehr, und man meint mitten in einer Atmosphäre zu sein, die etwas dichter wie auf der Erde wäre. Das ist alles.

Nachdem wir eine halbe Stunde weit gegangen, wurde der Boden steinig. Die Medusen, die mikroskopischen Schaltiere, die Seefedern beleuchteten ihn ein wenig mit phosphoreszierendem Schimmer. Ich erblickte dann Steinhaufen, die von Millionen Zoophyten und einer Menge Algen bedeckt waren. Der Fuß glitt oft aus auf dieser klebrigen Decke von Tang, und ohne meinen eisenbeschlagenen Stock wäre ich manchmal gefallen. Wandte ich mich um, so sah ich stets die weißliche Leuchte der ›Nautilus‹, die in der Entfernung zu erbleichen begann.

Diese Steinschichtungen, wovon ich eben sprach, waren auf dem Grund des Ozeans mit einer gewissen Regelmäßigkeit gereiht,

die ich nicht zu erklären wusste. Ich gewahrte riesenhafte Furchen, die sich im fernen Dunkel verloren und deren Länge man nicht zu schätzen imstande war. Noch andere besondere Eigentümlichkeiten zeigten sich, die ich nicht zu erklären wusste. Es kam mir vor, als zertraten meine schweren bleiernen Sohlen eine Lage von Gebein, das mit trockenem Geräusch krachte. Was war dies für eine weite Ebene, über die ich hinschritt? Ich hätte den Kapitän fragen mögen, aber seine Zeichensprache, wodurch er mit seinen Gefährten, wann sie ihn bei seinen unterseeischen Ausflügen begleiteten, sich verständigen konnte, war mir noch unverständlich.

Inzwischen vergrößerte sich der rötliche Schein, der uns leitete, und setzte den Horizont in Flammen. Dass es unter den Wassern einen solchen Lichtherd gab, beunruhigte mich im höchsten Grad.

War’s eine elektrische Ausströmung, die sich kundgab? Oder eine den Gelehrten der Erde noch unbekannte Naturerscheinung? Oder gar – der Gedanke fuhr mir durch den Kopf – hatte der Mensch bei dieser Glut die Hand im Spiele? Fachte er diesen Brand an? Sollte ich auf tiefem Meeresgrund Genossen, Freunde von Kapitän Nemo finden, die wie er ein so seltsames Dasein hatten, denen er einen Besuch abstatten wollte? Sollte ich dort unten eine ganze Kolonie Landesflüchtiger finden, die des irdischen Elends müde, die Unabhängigkeit im tiefsten Grund des Ozeans aufgesucht und gefunden hatten? Alle diese tollen, unglaublichen Ideen verfolgten mich, und in dieser Stimmung des Geistes, der unablässig von den zahllosen Wundern, die unter meinen Augen geschahen, überspannt war, wäre ich nicht überrascht gewesen, wenn ich im tiefen Meeresgrund auf eine der unterseeischen Städte, wovon Kapitän Nemo träumte, gestoßen wäre!

Unser Weg wurde immer heller. Der bleiche Schimmer strahlte auf dem Gipfel eines etwa 800 Fuß hohen Berges. Aber was ich bemerkte, war nur der Widerschein, der sich durch das Kristall der Wasserschichten bildete. Die Quelle dieser unerklärbaren Helle, die Glutstätte, war auf der entgegengesetzten Seite gelegen.

Mitten in diesen steinigen Irrgängen, die den Grund des Atlantiks durchzogen, ging Kapitän Nemo ohne Anstoß weiter; er kannte die dunklen Pfade. Ohne Zweifel hatte er sie schon oft gemacht,

und konnte sich nicht verirren. Ich folgte ihm mit unerschütterlichem Vertrauen. Er kam mir vor wie ein Genius des Meeres, und wenn er vor mir herschritt, bewunderte ich seine hohe Gestalt, die auf dem hellen Hintergrund schwarz abstach.

Um 1 Uhr früh befanden wir uns an den ersten Gebirgsaufgängen; aber um hinaufzukommen, musste man sich durch die schwierigen Pfade eines ungeheuren Gehölzes wagen.

Ja, ein Gehölz von abgestorbenen, blätterlosen, saftlosen Bäumen, die durch Einwirkung des Wassers mineralisiert waren und über die hier und da riesenhafte Fichten emporragten. Es war, sozusagen, ein noch aufrecht stehender Kohlenschatz, der mit den Wurzeln im Boden steckte und dessen Gezweig, gleich den feinen Papierausschnitten, sich auf der Oberfläche der Gewässer klar abzeichnete. Man stelle sich einen Harzwald an den Seiten eines Gebirges vor, aber einen versunkenen Wald. Die Pfade waren mit Tang und Meergras überschüttet, worunter eine Welt von Schaltieren wimmelte. Ich klimmte die Felsen hinan, schritt über hingestreckte Baumstämme, zerriss die Meerlianen, die sich von einem Baum zum anderen hinzogen, scheuchte die Fische auf, die von einem Zweig zum anderen entflohen. Fortgerissen, fühlte ich keine Müdigkeit. Ich folgte meinem Führer, dem Ermüdung unbekannt war.Welch ein Schauspiel! Wie ließe sich ein Bild geben von dieser Waldung und diesen Felsen, unten düster und wild, oben in der Färbung roter Töne durch Einwirkung jenes hellen Schimmers, der durch die zurückstrahlende Kraft der Gewässer verstärkt wurde?

Wir klimmten Felsen hinan, die späterhin mit dem dumpfen Getöse einer Lawine zusammenfielen. Rechts und links zogen finstere Gänge, worin sich der Blick verlor.

Kapitän Nemo ging stets aufwärts. Ich wollte nicht zurückbleiben, folgte ihm kühn, unterstützt durch meinen tüchtigen Stock.

Ein Fehltritt wäre verderblich gewesen auf diesen engen Pfaden neben Abgründen; aber ich schritt weiter mit festem Tritt und ohne Schwindel. Bald sprang ich über einen tiefen Spalt, bald wagte ich mich über einen wankenden Baumstamm, der umgestürzt von einer Kluft zur anderen führte. Dort schienen monumentale Felsen,

auf unregelmäßiger Basis überhängend, den Gleichgewichtsgesetzen zu trotzen.

Und ich selbst fühlte nicht den Unterschied der hohen Dichte des Wassers, wenn ich trotz meines schwerfälligen Anzugs, der kupfernen Kopfbedeckung und der bleiernen Sohlen über steile Abhänge so leicht fast wie eine Gämse aufwärts drang.

Ich fühle wohl, dass ich bei dieser Erzählung Unwahrscheinliches zu sagen scheine. Aber es ist doch wirklich und unbestreitbar so; es ist kein Traum, den ich berichte.

2 Stunden nachdem wir die ›Nautilus‹ verlassen hatten, waren wir über die Linie des Baumwuchses hinausgekommen, und 100

Fuß über unseren Köpfen ragte die Spitze des Berges empor, der die glänzende Bestrahlung des Abhangs der anderen Seite verdeckte. Hier und da zogen sich versteinerte Gebüsche im Zickzack. Massenweis entflohen die Fische unter unseren Tritten wie Vögel im Gesträuch. Die Felsenmasse war voll undurchdringlicher Spalten, tiefer Grotten, unergründlicher Löcher, worin es sich auf dem Grund fürchterlich rührte und regte. Mein Pulsschlag stockte, wenn sich mir enorme Fühlhörner in den Weg streckten oder im Dunkel der Höhlungen schreckliche Scheren klafften. Tausende leuchtender Punkte glänzten inmitten des Dunkels. Es waren die Augen riesenmäßiger Schaltiere, die in ihren Löchern hockten, kolossale Hummern, die sich wie Hellebardiere reckten, Krabben wie Kanonen auf ihren Lafetten und grässliche Polypen, die ihre Fühlhörner gleich einem lebendigen Schlangengebüsch verschlungen ausstreckten.

Diese Ungeheuerlichkeiten waren eine mir unbekannte Welt.

Seit wie viel Jahrhunderten lebten diese Tiere also in den tiefsten Schichten des Ozeans?

Aber ich konnte mich nicht dabei aufhalten. Kapitän Nemo achtete nicht mehr darauf. Wir waren auf einer ersten Hochfläche angelangt, wo andere Überraschungen meiner harrten. Man bekam da malerische Ruinen zu Gesicht, welche die Hand des Menschen erkennen ließen: ungeheure Haufen von Steintrümmern, woran man unklare Formen von Schlössern und Tempeln unterscheiden konnte, die mit einer Welt von Zoophyten in Blüte und mit einer dicken Hülle von Tang und Algen gleich Efeu überdeckt waren.

Aber was hatte es mit diesem durch Überschwemmung versenkten Erdteil für eine Bewandtnis? Wer hatte diese Felsen und Steine als Zeugen aus der Urzeit aufgerichtet? Wohin hatte mich die Laune von Kapitän Nemo geschleppt?

Gern hätte ich ihn gefragt. Ich hielt ihn an, fasste ihn beim Arm.

Aber er schüttelte den Kopf und zeigte auf den höchsten Gipfel des Berges, als wolle er sagen:

»Komm! Komm immer weiter!«

Ich nahm meine letzten Kräfte zusammen, ihm zu folgen, und in einigen Minuten hatten wir die Spitze erstiegen, die um etwa 10

Meter über diese ganze Felsenmasse emporragte.

Ich blickte auf die Seite, woher wir gekommen waren, zurück.

Der Berg erhob sich nur 7- bis 800 Fuß über die Ebene; aber auf der entgegengesetzten Seite beherrschte er aus doppelter Höhe den Grund dieses Teils des Atlantiks. Ich konnte weit hinausblicken und gewahrte einen ungeheuren Raum von starkem Blitzesschein erleuchtet. In der Tat, der Berg war ein Vulkan. 50 Fuß unterhalb der Spitze, mitten in einem Regen von Steinen und Schlacken, warf ein weiter Krater Lavaströme aus, die in feurigem Sprudeln durch die Gewässer drangen. So erleuchtete der Vulkan wie eine ungeheure Fackel die darunter liegende Ebene bis zu den äußersten Grenzen des Horizonts.

Ich habe gesagt, der unterseeische Krater warf nur Laven aus, keine Flammen. Für diese bedarf’s des Sauerstoffs der Luft, und sie konnten ohne diesen sich nicht unter dem Wasser entwickeln; aber Lavaströmungen, die das Prinzip ihres Brands in sich tragen, können bis zum rot-weißen gedeihen, siegreich gegen das nasse Element kämpfen und bei einer Berührung verdunsten. Alle diese Gase verbreiteten sich in reißenden Strudeln, und die Lavaströme glitten auf dem Krater des Berges hinab wie einst aus dem Krater des Vesuvs auf Torre del Greco.

Wirklich zeigte sich da unter meinen Augen in Trümmern eine in den Abgrund versunkene Stadt mit eingestürzten Dächern, zerfallenen Tempeln, verschobenen Gewölben, zu Boden gestürzten Säulen, an denen man noch die Verhältnisse toskanischer Architektur erkannte: weiter hinaus Trümmer eines riesenhaften Aquädukts; hier in Schlamm vergraben eine Akropole mit den Formen eines Parthenon; dort die Spuren eines Kais, als hätte einst ein antiker Hafen am Gestade eines verschwundenen Ozeans den Kaufmannsschiffen und Kriegstriremen Schutz gewährt; noch weiter hinaus lange Reihen zerfallener Mauern, große verödete Straßen, ein ganzes versunkenes Pompeji, das Kapitän Nemo vor meinen Augen wieder ins Leben rief.

Wo war ich? Ich wollte es um jeden Preis wissen, ich wollte reden, die kupferne Kugel, die meinen Kopf einkerkerte, abreißen.

Aber der Kapitän Nemo kam zu mir und hielt mich ab.

Daraufhob er ein Stückchen kreideartigen Gesteins auf, trat an

einen schwarzen Basaltfelsen und schrieb darauf nur das einzige Wort:

Atlantis

Wie ein Blitzstrahl fuhr mir ein Gedanke durch den Kopf ! Die alte Atlantis Platons, das einst versunkene Festland, dessen Dasein eine Menge Gelehrter von Origenes an bis Humboldt geleugnet, sein Verschwinden unter die Märchen gerechnet, von anderen nicht minder großen Gelehrten von Plinius bis Buffon anerkannt wurde – hier lag es vor meinen Augen mit den unverwerflichen Zeugnissen seines Hinabsinkens! Es war also die versunkene Landschaft, die einst außerhalb Europas, Asiens, Libyens vorhanden war, draußen vor den Säulen des Herkules, wo einst das mächtige Volk der Atlanten lebte, mit dem das alte Griechenland seine ersten Kriege führte.

Plato selbst hat in seinen Schriften die Großtaten dieser Heroenzeit aufgezeichnet. Sein Dialog Timäus und Kritias ist sozusagen unter Eingebung Solons geschrieben.

Einst unterhielt sich Solon mit einigen weisen Greisen aus Sais, einer bereits 800 Jahre alten Stadt. Einer dieser Greise erzählte die Geschichte einer anderen Stadt, die über 1.000 Jahre älter war.

Diese erste etwa 9 Jahrhunderte alte athenische Stadt war von den Atlanten angegriffen und zum Teil zerstört worden. Diese Atlanten, sagte er, hatten ein unermessliches Festland inne, das größer war als Afrika und Asien zusammen und eine Fläche vom 12. bis 40. Grad nördlicher Breite deckte. Ihre Herrschaft erstreckte sich selbst auf Ägypten. Sie wollten sie auch über Griechenland ausdehnen, mussten aber vor dem unbezwinglichen Widerstand der Hellenen zurückweichen. Jahrhunderte verflossen. Es entstand eine Überschwemmung, ein Erdbeben, und in Zeit von einer Nacht und einem Tag verschwand jene Atlantis, deren höchste Spitzen, Madeira, die Azoren, die Kanaren, die Kapverdischen Inseln noch hervorragen.

Diese historischen Erinnerungen rief die Inschrift von Kapitän Nemo in meinem Geist wach. Also hatte mich das seltsamste Geschick dahin geleitet, dass ich auf einem der Berge dieses Kontinents stand, die Ruinen aus der Urzeit der geologischen Epochen mit Händen zu berühren imstande war!

Ach! Wie bedauerte ich diesen Mangel an Zeit! Gern wäre ich die steilen Abhänge des Berges hinabgestiegen, um den unermesslichen Kontinent ganz zu durchlaufen, der ohne Zweifel einst Afrika und Amerika verband, um die großen Städte der Urzeit zu besuchen.

Während ich über diesen Gedanken in Träume versank und alle Details dieser großartigen Landschaft mir einzuprägen bemüht war, stand auch Kapitän Nemo, gegen eine bemooste Säule gelehnt, in stummes Träumen verloren.

Eine volle Stunde blieben wir an dieser Stelle und betrachteten beim Glanz der Laven die ungeheure Ebene. Aus der Tiefe drang ein Getöse, das klar durch die umgebenden Gewässer drang und mit majestätischer Fülle widerhallte.

In diesem Augenblick schien auch der Mond eine Weile durch die Masse der Gewässer und warf einige bleiche Strahlen auf den versunkenen Kontinent. Nur ein Schimmer zwar, aber von unbeschreiblichem Effekt. Der Kapitän erhob sich, warf einen letzten Blick auf diese unermessliche Ebene; darauf winkte er mit der Hand, ihm zu folgen.

Wir stiegen rasch den Berg hinab. Als wir den mineralischen Wald einmal hinter uns hatten, sah ich die Leuchte der ›Nautilus‹

gleich einem Stern glänzen. Der Kapitän schritt gerade darauf los, und wir befanden uns wieder an Bord, als eben das erste Schimmern des Morgenrots die Oberfläche des Ozeans traf.

 

Reiseromane