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14. KAPITEL

Der schwarze Strom

Der vom Wasser bedeckte Teil der Erdoberfläche wird auf 3 Millionen 132.558 Quadratmyriameter, d.h. über 38 Millionen Hektar (à 10.000 Quadratmeter) angeschlagen. Diese flüssige Masse enthält 2 Milliarden 250 Millionen Kubikmeilen und würde eine Kugel mit einem Durchmesser von 60 Lieue bilden und einem Tonnengewicht von 3 Quintillionen. Um diese Zahl zu begreifen, muss man sich sagen, dass die Quintillion sich zur Milliarde verhält wie die Milliarde zur Einheit, d.h., dass ebenso viel Milliarden in einer Quintillion enthalten sind wie Einheiten in einer Milliarde. Diese Wassermasse nun ist ungefähr ebenso viel, als in allen Flüssen der Erde während 40.000 Jahren fließt.

Zur Zeit der geologischen Epochen folgte auf die Periode des Feuers die des Wassers. Der Ozean bedeckte anfangs alles. Darauftraten in der Übergangsepoche die Bergspitzen hervor, die Inseln tauchten auf, verschwanden wieder bei teilweisen Überschwemmungen, zeigten sich von Neuem, setzten sich aneinander an, bildeten Kontinente, und endlich gewannen die Länder die feste Gestalt, wie wir sie jetzt geografisch kennen. Das Feste hatte dem Flüssigen 37 Millionen 657 Quadratmeilen abgewonnen im Betrag von 12.916 Millionen Hektar.

Gemäß der Gestaltung der Kontinente wurden nun die Meere in die fünf großen Teile geteilt: das Nördliche und Südliche Polarmeer, der Indische Ozean, der Atlantik und der Pazifik.

Der letztere, der sich von Norden nach Süden, zwischen den beiden Polarzirkeln, und von Osten nach Westen, zwischen Asien und Amerika, 145 Längengrade weit erstreckt, ist von allen Meeren das ruhigste; seine Strömungen sind weit und langsam, Ebbe und Flut mäßig, Regengüsse reichlich. Diesen Ozean sollte ich unter den seltsamsten Bedingungen zuerst durchfahren.

»Herr Professor«, sagte Kapitän Nemo zu mir, »wenn es Ihnen beliebt, wollen wir den Ort, wo wir uns; befinden, und den Punkt, von dem wir abfahren, genau aufnehmen und feststellen. Es ist drei Viertel auf 12 Uhr mittags. Ich will nun zur Oberfläche des Wassers aufsteigen.«

Der Kapitän drückte dreimal auf die elektrische Uhr. Die Pumpen begannen das Wasser aus den Behältern zu treiben; der Zeiger des Manometers gab durch den verschiedenen Druck die aufsteigende Bewegung der ›Nautilus‹ an, dann blieb er stehen.

»Wir sind oben angelangt«, sagte der Kapitän.

Ich begab mich zu der in der Mitte befindlichen Leiter, die zur Plattform führte, kletterte die metallenen Sprossen hinauf und gelangte oben auf der ›Nautilus‹ an.

Die Plattform ragte nur um 80 Zentimeter hervor. Vorder- und Hinterteil der ›Nautilus‹ zeigten die spindelförmige Gestalt, die ihn einer langen Zigarre vergleichbar machte. Ich bemerkte, wie ihre Eisenplatten mit dachziegelförmigem Aussehen dem Schuppenpanzer glichen, womit der Körper der großen Land-Reptilien bedeckt ist. Ich erklärte mir daher als sehr natürlich, dass trotz der besten Fernrohre dies Fahrzeug stets für ein Seetier gehalten wurde.

Um die Mitte der Plattform bildete das kleine Boot, das zur Hälfte in den Schiffsrumpf eingelassen war, eine leichte Erhöhung.

Vorn und hinten standen zwei Gehäuse von mäßiger Höhe vor, mit schiefen Wänden, die zum Teil mit dicken Linsengläsern geschlos

sen waren: das eine war für den Steuerer bestimmt, der die ›Nautilus‹ leitete, das andere für die glänzende elektrische Schiffslaterne, welche die Fahrt mit Licht umgab.

Das Meer war prachtvoll, der Himmel rein. Das lange Fahrzeug spürte kaum die weiten Wogen des Ozeans. Ein leichter Ostwind runzelte die Oberfläche der Gewässer. Der nebelfreie Horizont begünstigte die Beobachtungen trefflich.

Wir hatten nichts in Sicht. Keine Klippe, kein Eiland. Von der ›Abraham Lincoln‹ keine Spur. Eine unermessliche Öde.

Kapitän Nemo nahm mithilfe seines Sextanten den Höhenstand der Sonne auf, woraus sich ihm die Breite ergab. Er wartete einige Minuten, bis das Gestirn am Rand des Horizonts in gleiche Ebene kam. Während er beobachtete, zitterte keine seiner Muskeln, das Instrument wäre in einer marmornen Hand nicht so unbeweglich gewesen.

»12 Uhr mittags«, sagte er. »Herr Professor, wann Sie belieben ...?«

Ich warf einen letzten Blick auf dieses Meer, das in der Nähe der japanischen Küste etwas gelblich war, und begab mich wieder hinab in den großen Salon.

Hier machte der Kapitän sein Besteck auf und berechnete mithilfe des Chronometers die Länge, die er durch die vorausgehenden Beobachtungen der Stundenwinkel kontrollierte. Hierauf sagte er zu mir:

»Herr Arronax, wir befinden uns unterm 137. Grad und 15 Minuten westlicher Länge ...«

Von welchem Meridian aus«, fragte ich lebhaft, in Hoffnung, seine Antwort werde mir vielleicht seine Nationalität offenbaren.

»Mein Herr«, erwiderte er, »ich habe verschiedene Chronometer, die nach den Meridianen von Paris, Greenwich und Washington gestellt sind. Aber Ihnen zu Ehren will ich mich des Parisers bedienen.«

Aus dieser Antwort konnte ich nichts entnehmen. Ich machte eine Verbeugung, und der Kommandant fuhr fort:

»37 Grad und 15 Minuten westlicher Länge vom Pariser Meridian ab, und 30 Grad, 7 Minuten nördlicher Breite, d.h. etwa 300

Meilen vom Gestade Japans. Heute haben wir den 8. November, da zu Mittag unsere unterseeische Forschungsreise beginnt.«

»Gott sei mit uns!« erwiderte ich.

»Und jetzt, Herr Professor«, fuhr der Kapitän fort, »lasse ich Sie bei Ihren Studien. Ich habe die Richtung Ost-Nord-Ost bei 50

Meter Tiefe angegeben. Hier sind Karten, womit Sie sie begleiten

können. Der Salon steht Ihnen zur Verfügung, und ich bitte um Erlaubnis, mich zurückzuziehen.«

Ich blieb nun allein in meine Gedanken vertieft. Sie waren alle beim Kommandanten der ›Nautilus‹. Sollte ich jemals erfahren, welcher Nation der seltsame Mann angehört, der keiner anzugehören sich rühmt? Wodurch ist sein Hass gegen die menschliche Gesellschaft, ein Hass, der vielleicht auf schreckliche Rache ausging, hervorgerufen worden? War es einer der verkannten Gelehrten, ein Genie, dem man sein Leben verkümmert hat, ein moderner Galilei, oder einer der Männer der Wissenschaft, deren Laufbahn durch politische Revolutionen zertrümmert wurde? Ich konnte noch nichts darüber sagen. Mich, den das Schicksal an sein Bord verschlug, dessen Leben er in der Hand hat, nahm er kalt, aber gastlich auf. Nur ergriff er nie die Hand, die ich ihm reichte. Mir reichte er nie die seine.

Eine volle Stunde blieb ich in diese Gedanken versunken, indem ich das mir so interessante Geheimnis zu durchdringen suchte.

Darauf hefteten sich meine Blicke auf die große über den Tisch gebreitete Karte, und ich bezeichnete mit dem Finger den Punkt, wo die beobachtete Länge und Breite sich kreuzten.

Das Meer hat, wie die Kontinente, seine Flüsse. Es sind besondere Strömungen, die an ihrer Temperatur und Farbe kenntlich sind; der merkwürdigste ist unter dem Namen Golfstrom bekannt. Die Wissenschaft hat auf der Erdkugel die Richtung der fünf Hauptströme bestimmt: einer ist im Norden, ein zweiter im Süden des Atlantiks, ein dritter im Norden, ein vierter im Süden des Pazifiks, ein fünfter im Süden des Indischen. Es ist sogar wahrscheinlich, dass ehemals noch ein sechster Strom im Norden des Indischen Ozeans existierte, zurzeit als der Kaspische und der Uralsee, die nun zu den großen Seen Asiens gehören, nur eine einzige und dieselbe Wasserfläche bildeten.

An dem auf der Karte bezeichneten Punkt nun fließt einer jener Ströme, der Schwarze Fluss, von den Japanesen Kuro-Scivo genannt, der vom Bengalischen Golf her, wo die senkrechten Strahlen der tropischen Sonne ihn wärmen, durch die Enge von Malakka hindurch, längs der Küste Asiens fortläuft, dann im Nor

den des Pazifiks in runder Krümmung bis zur Aleutengruppe hinzieht, Stämme von Kampferbäumen und andere indische Produkte mit sich fortwälzt und mit dem puren Indigo seiner warmen Gewässer von den Fluten des Ozeans absticht. Mit dieser Strömung war die ›Nautilus‹ im Begriff zu fahren. Ich verfolgte sie mit dem Blick, sah, wie sie sich in der Unermesslichkeit des Pazifiks verlor, fühlte mich mit ihr fortgetrieben, als Ned Land und Conseil an der Tür des Salons erschienen.

Meine wackeren Gefährten standen wie versteinert beim Anblick der vor ihren Augen angehäuften Wunder.

»Wo sind wir? Wo sind wir?« rief der Kanadier. »Im Museum zu Quebec?«

»Wenn’s meinem Herrn beliebt«, versetzte Conseil, »wäre es eher im Hotel Sommerard!«

»Meine Freunde«, erwiderte ich, indem ich ihnen winkte einzutreten, »Sie sind weder in Kanada noch in Frankreich, sondern an Bord der ›Nautilus‹, 50 Meter unter dem Meeresspiegel!«

»Ich muss meinem Herrn glauben, weil er’s versichert«, erwiderte Conseil; »aber offen gesagt, dieser Salon ist gemacht, selbst einen Flamen, wie ich bin, in Staunen zu setzen.«

»Staune nur, Freund, und schau, denn für einen so starken Klassifizierer wie du, gibt’s hier zu tun.«

Ich brauchte Conseil nicht aufzumuntern. Der brave Junge, über die Glaskästen gebeugt, murmelte schon Worte aus der Naturforschersprache; Klasse der Gasteropoden, Familie der Buccinoiden usw.Währenddessen fragte mich Ned Land, der wenig Sinn für Conchylien hatte, über meine Unterredung mit Kapitän Nemo: Ob ich entdeckt habe, wer er sei, woher er komme, wohin er gehe, in welche Tiefen er uns hinabziehe? Kurz, tausend Fragen, die ich zu beantworten keine Zeit hatte.

Ich teilte ihm mit, was ich wusste, oder vielmehr, was ich nicht wusste, und fragte ihn, was er seinerseits gehört oder gesehen habe.

»Nichts gesehen, nichts gehört!« erwiderte der Kanadier. Ich

habe nicht einmal die Mannschaft des Boots gesehen. Sollte sie vielleicht auch elektrisch sein?«

»Elektrisch!«

»Wahrhaftig! Man sollte versucht sein, es zu glauben. Aber Sie, Herr Arronax«, fragte Ned Land, der noch immer seine Idee hatte,

»Sie können mir nicht sagen, wie viel Mann an Bord sind? 10? 20?

50? 100?«

»Ich kann darauf keine Antwort geben, Meister Land. Übrigens, glauben Sie mir, geben Sie für jetzt die Idee auf, sich der ›Nautilus‹

zu bemächtigen oder zu fliehen. Dieses Fahrzeug ist ein Meisterwerk der modernen Industrie, und es wäre mir leid, hätte ich es nicht gesehen! Wie mancher würde sich gern unsere Lage gefallen lassen, sei es auch nur, um durch diese Wunder zu spazieren. Also halten Sie sich ruhig, und trachten wir zu sehen, was um uns herum vorgeht.«

»Sehen!« rief der Harpunier, »man sieht ja nichts, man wird auch von diesem eisernen Gefängnis aus nichts sehen! Wir fahren, wir schiffen blind hinaus ...«

Diese letzten Worte sagte Ned Land, als es plötzlich stockfinster wurde. Die Helle am Plafond erlosch, und zwar so rasch, dass meine Augen darüber Schmerz empfanden, gerade so wie bei plötzlichem Übergang aus dem Finstern zum blendenden Licht.

Wir blieben still, rührten uns nicht, da wir nicht wussten, welche angenehme oder unangenehme Überraschung uns bevorstand. Da hörte man ein Hin-und-her-Gleiten, als wenn die Füllungen der Seitenwände sich verschöben.

»Jetzt ist alles aus!« sagte Ned Land.

»Ordnung der Hydromedusen!« murmelte Conseil.

Mit einem Mal wurde es auf beiden Seiten des Salons hell durch zwei längliche Öffnungen. Das Gewässer zeigte sich durch elektrische Einwirkung lebhaft erleuchtet. Wir waren nur durch zwei Glasplatten vom Meer geschieden. Anfangs schauderte mir beim Gedanken an die Zerbrechlichkeit dieser Wand; doch war sie durch starke Kupfereinfassung befestigt, sodass sie fast unendlichen Widerstand zu leisten fähig war.

Das Meer war im Umfang einer Meile um die ›Nautilus‹ herum

klar zu durchschauen. Welch ein Anblick! Mit der Feder nicht zu beschreiben! Wer vermöchte die Lichteffekte durch diese erleuchteten Streifen und die sanften allmählichen Abstufungen bis zu den unteren und oberen Schichten zu schildern!

Die Durchsichtigkeit des Meeres ist bekannt; man weiß, dass es weit klarer ist, als das Felsenquellwasser. Die mineralischen und organischen Bestandteile, die es in aufgelöstem Zustand enthält, erhöhen noch seine Durchsichtigkeit. In manchen Teilen des Ozeans, bei den Antillen, kann man 145 Meter tief den sandigen Meeresgrund mit erstaunlicher Klarheit erkennen, und die durchdringende Kraft der Sonnenstrahlen scheint erst in einer Tiefe von 300

Meter aufzuhören. Aber in der flüssigen Umgebung der ›Nautilus‹

wurde der elektrische Glanz im Schoß der Wogen selbst hervorgebracht: es war nicht erleuchtetes Wasser, sondern flüssiges Licht.

Nimmt man Ehrenbergs Hypothese an, der an eine phosphoreszente Erleuchtung der Meerestiefen glaubt, so hat die Natur gewiss den Bewohnern des Meeres die wundervollste Anschauung vorbehalten, ich konnte hier durch das tausendfache Lichtspiel ein Urteil darüber gewinnen. Auf jeder Seite blickte ich durchs offene Fenster in die unerforschten Abgründe. Das Dunkel im Salon hob die äußere Helle, und wir schauten, als sei dieses reine Spiegelglas das Fenster eines unermesslichen Aquariums.

Die ›Nautilus‹ schien nicht ihre Stelle zu ändern, weil es an Merkpunkten fehlte. Mitunter jedoch ließen die durch seinen Schnabel vor unseren Augen zerteilten Wasserstreifen eine äußerste Schnelligkeit erkennen.

In Staunen versunken lagen wir vor diesen Glasscheiben, keiner unterbrach das bewundernde Schweigen. Dann sagte Conseil:

»Sie wollen schauen, Freund Ned, nun denn, schauen Sie?«

»Merkwürdig! Merkwürdig!« rief der Kanadier aus, der, unwiderstehlich angezogen, seinen Zorn und seine Entweichungsprojekte vergaß – man würde weit herkommen, so Wundervolles zu sehen!«

»Ah!« rief ich aus, »jetzt begreife ich das Leben dieses Mannes!

Er hat sich eine Welt für sich besonders geschaffen, die ihm erstaunliche Wunder vorbehält!«

»Aber die Fische?« bemerkte der Kanadier. »Ich sehe keine Fische!«

»Was liegt Ihnen denn daran, Freund Ned«, erwiderte Conseil,

»Sie kennen sie ja doch nicht.«

»Ich, gewiss! Ein Fischer von Profession!« rief Ned Land.

Und es erhob sich ein Streit zwischen den beiden Freunden,

denn sie kannten beide die Fische, aber jeder in sehr verschiedenerweise.

Es ist jedermann bekannt, dass die Fische die vierte und letzte Klasse der Wirbeltiere ausmachen. Man hat sie richtig definiert:

»Wirbeltiere mit kaltem Blut und doppeltem Umlauf, die durch Kiemen atmen und im Wasser zu leben bestimmt sind.« Sie bestehen aus zwei Abteilungen: Fische mit Knochen, d.h., deren Rückgrat aus knochenartigen Wirbeln gebildet ist; und Knorpelfische mit knorpeligen Rückgratswirbeln.

Conseil, der weit mehr Kenntnisse über den Gegenstand hatte, wollte nun aus Freundschaft nicht dulden, dass Ned darin so wenig Kenntnisse hatte. Er sagte:

»Freund Ned, Sie sind ein sehr geschickter Fischer, verstehen diese Tiere zu töten. Sie haben sie in großer Menge gefangen, aber wie man sie einteilt, wissen Sie wohl nicht.«

»O ja!« erwiderte der Harpunier. Sie werden eingeteilt in Fische, die man isst, und solche, die man nicht isst.«

»Solch eine Einteilung macht ein Fresser«, versetzte Conseil.

»Aber sagen Sie mir, ob Sie den Unterschied von Knochen- und Knorpelfischen wissen?«

»Vielleicht wohl, Conseil.«

»Und die Unterabteilung dieser großen Klasse?«

»Hab’ keinen Begriff davon«, erwiderte der Kanadier.

»Nun so hören Sie, Freund Ned, und behalten Sie. Die Knochenfische zerfallen in sechs Ordnungen:

Die erste, mit vollständigen beweglichen Oberkiefern und Kiemen in Gestalt eines Kammes, begreift fünfzehn Familien, die drei Viertel der bekannten Fische ausmachen, darunter der gemeine Barsch.«

»Schmeckt ziemlich gut«, erwiderte Ned Land.

»Die der zweiten Ordnung, Afterflosser genannt, haben ihre Bauchflossen am Unterleib und hinter den Brustflossen, nicht an die Schulterknochen geheftet. Sie bildet fünf Familien, wozu die meisten Süßwasserfische gehören, darunter der Karpfen, der Hecht.«

»Pfui!« sagte der Kanadier verächtlich, »Süßwasserfische!«

»Drittens, fuhr Conseil fort, »deren Bauchflossen unter den Brustflossen stehen und unmittelbar an die Schulterknochen geheftet sind. Sie machen vier Familien aus, wozu die Butten, Plattfische, Meerzungen gehören usw.«

»Vortrefflich! Vortrefflich!« rief der Harpunier aus, der die Fische durchaus nur nach der Essbarkeit schätzte.

»Viertens«, fuhr Conseil fort, ohne sich irremachen zu lassen,

»die Apoden, mit langem Leib, ohne Bauchflossen, und einer dichten, oft klebrigen Haut. Diese Ordnung bildet nur eine Familie, zu welcher der Aal gehört.«

»Mittelmäßig!« versetzte Ned Land.

»Die der fünften haben vollständige und freie Kiefern, ihre Kiemen aber bestehen aus kleinen Büscheln, die paarweise längs den Kiemenbögen stehen. Diese Ordnung ist nur eine Familie, wozu das Seepferd gehört.«

»Nicht gut! Nicht gut!« versetzte der Harpunier.

»Bei einer sechsten Ordnung endlich ist der Kieferknochen an der Seite festgeheftet und die Gaumenwölbung durch eine Naht mit dem Schädel eingezahnt, sodass sie unbeweglich wird. Diese Ordnung hat keine eigentlichen Bauchflossen und besteht aus zwei Familien, wozu der Mondfisch gehört.«

»Schande für eine Pfanne!« rief der Kanadier.

»Haben Sie begriffen, Freund Ned?« fragte der gelehrte Conseil.»Nicht das Mindeste, Freund Conseil«, war die Antwort. »Aber fahren Sie nur immer fort, Sie sind sehr interessant.«

»Die Knorpelfische«, versetzte Conseil mit unvergleichlicher Ausdauer, »enthalten nur drei Ordnungen.«

»Um so besser«, sagte Ned.

»Bei den ersten sind die Kiefern in einem beweglichen Ring verwachsen, und die Kiemen öffnen sich in zahlreichen Löchern; zu dieser gehört nur die Familie der Lampretten.«

»Die sind zu schätzen«, erwiderte Ned Land.

»Bei der zweiten ist der Unterkiefer beweglich. Die zwei Familien dieser Ordnung sind durch Rochen und Haifisch repräsentiert.«

»Wie!« rief Ned, »Rochen und Hai in derselben Ordnung! Da ist’s rätlich, sie nicht in denselben Behälter zu tun!«

»Die dritten haben wie gewöhnlich Kiemen, die durch eine einzige mit einem Deckel versehene Spalte sich öffnen. Ein Muster dieser Ordnung ist der Stör.«

»Ah, Freund Conseil, Sie haben das Beste bis zuletzt aufgehoben.«

»Ja, wackerer Ned«, erwiderte Conseil. »Merken Sie aber, hiermit weiß man nichts, denn die Familien teilen sich in Gattungen, Arten, Varietäten.«

»Aber, Freund Conseil«, sagte der Harpunier, »da sehen wir ja die Arten und Varietäten vor dem Fenster vorüberziehen!«

»Ja!« rief Conseil. »Man sollte meine, man wäre in einem Aquarium!«

»Nein«, erwiderte ich, »denn das Aquarium ist ein Gefängnis, und diese Fische da sind frei wie die Vögel in der Luft.«

»Ei nun, Freund Conseil, nennen Sie sie doch bei Namen!« sagte Ned Land.

»Ich«, erwiderte Conseil, »verstehe mich nicht darauf ! Das ist eine Sache meines Herrn!«

Und wirklich, trotz allem Klassifizieren war er kein Naturkundiger, und wusste wohl nicht einen Thunfisch von einem Bonit zu unterscheiden. Gerade im Gegenteil verstand der Kanadier diese Fische alle zu benennen.

Ned und Conseil zusammen hätten einen ausgezeichneten Naturkundigen abgegeben.

»Ein chinesischer Hornfisch!« rief Ned Land und irrte nicht.

Ein Trupp Hornfische, mit plattem Körper und einem Stachel auf dem Rücken, trieben sich munter um die ›Nautilus‹ herum und bewegten die vier Reihen Stacheln, die auf beiden Seiten ihres Schwanzes wie Borsten starren. Ihre Haut ist wunderschön, oben grau, unten weiß mit goldenen Flecken, die in den düsteren Wellen glänzten. Zwischen ihnen schwammen Rochen, und darunter bemerkte ich sehr erfreut den chinesischen Rochen, oben gelblich, unten am Bauch zart rosa und hinter dem Auge mit drei Stacheln.

2 Stunden lang gab ein ganzes Heer von Wassertieren der ›Nau

tilus‹ das Geleit. Mitten in ihrem Spiel, ihren Sprüngen, wie sie um die Wette an Schönheit, Glanz und Schnelligkeit sich hervortaten, zeigten sie sich unseren Blicken in reizender Mannigfaltigkeit. Unsere Bewunderung hielt sich unausgesetzt auf ihrem Höhepunkt.

Ned wusste sie zu benennen, Conseil zu klassifizieren, ich entzückte mich an ihren schönen Formen und lustigen Bewegungen.

Diese Tiere lebend, frei in ihrem natürlichen Element zu schauen war ein Genuss, der mir noch nie geworden war. Ich will alle die mannigfaltigen Gattungen nicht aufzählen, die, angelockt wohl vom elektrischen Licht, zahlreicher als die Vögel der Luft um uns her schwammen.

Plötzlich wurde’s wieder hell im Salon. Die eisernen Tafeln schoben sich wieder vor. Das bezaubernde Schauspiel hörte auf.

Aber ich war noch lange wie im Traum, bis meine Blicke auf die an den Wänden hängenden Instrumente fielen. Die Magnetnadel wies stets nach Nord-Nord-Ost, das Manometer zeigte einen Druck von 5 Atmosphären, was eine Tiefe von 50 Meter bedeutete, und das elektrische Log gab eine Schnelligkeit von 15 Meilen die Stunde an.Ich erwartete Kapitän Nemo, aber er erschien nicht. Es war 5 Uhr.

Ned Land und Conseil begaben sich wieder in ihre Kabine, ich in mein Zimmer, wo ich mein Mahl aufgetragen fand. Es bestand aus einer Suppe von Caretschildkröte, Meerbarbe von weißem Fleisch, deren Leber besonders in köstlicher Zubereitung, und Stückchen Kaiser-Holocante, das mir schmackhafter als Salmen vorkam.

Den Abend brachte ich mit Lesen, Schreiben und in Gedanken hin. Als der Schlaf mir kam, streckte ich mich auf mein Seegraslager und schlummerte tief, während die ›Nautilus‹ quer durch die reißende Strömung des Schwarzen Flusses fuhr.

 

Reiseromane