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14. KAPITEL

Der Südpol

Ich eilte auf die Plattform. Ja! Das freie Meer. Kaum einzelne zerstreute Eisblöcke, bewegliche Eisberge; in der Ferne eine weite Meeresfläche; eine Menge Vögel in den Lüften, und Myriaden Fi

sche in den Gewässern, die, je nach dem Grund, wechselnd tiefblau und olivengrün waren. Das Thermometer zeigte 3 Grad Celsius über Null. Es war verhältnismäßig gleichsam Frühling hinter dieser Eisdecke, deren ferne Massen am nördlichen Horizont sich abzeichneten.

»Sind wir am Pol?« fragte ich mit klopfendem Herzen den Kapitän.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte er mir, »zu Mittag werden wir die Aufnahme machen.«

»Aber wird die Sonne durch diesen Nebel sichtbar werden?«

fragte ich mit einem Blick auf den grauen Himmel.

»Sowenig sie zum Vorschein kommt, genügt sie mir«, erwiderte der Kapitän.

10 Meilen südlich von der ›Nautilus‹ ragte ein vereinzeltes Eiland 200 Meter hoch. Wir fuhren darauf zu, aber vorsichtig, denn dieses Meer konnte mit verdeckten Klippen bedeckt sein.

Nach einer Stunde hatten wir das Eiland erreicht. 2 Stunden später waren wir darum herumgefahren. Es hatte 4 bis 5 Meilen Umfang, und war durch einen engen Kanal von einem ansehnlichen Land geschieden, das vielleicht ein Festland war, dessen Grenzen wir noch nicht wahrnehmen konnten. Das Dasein dieses Landes schien für die Hypothesen Maurys einen Beleg zu geben.

Der geistreiche Amerikaner hat die Bemerkung gemacht, dass zwischen dem Südpol und dem 60. Breitengrad das Meer mit treibenden Eisblöcken von enormer Größe bedeckt ist, wie man sie im Nordatlantik niemals trifft. Aus dieser Tatsache hat er den Schluss gezogen, dass der Südpolarkreis bedeutendes Festland enthalten müsse, weil die Eisberge sich nicht im hohen Meer bilden können, sondern nur an den Küsten. Seinen Berechnungen nach bildet die Eismasse, die den Südpol umgibt, eine große Kappe, die bis 4.000

Kilometer breit sein müsse.

Die ›Nautilus‹ hielt jedoch, um nicht festzufahren, 3 Kabellängen von einem flachen Sandufer an, über das eine prachtvolle Felsengruppe ragte. Das Boot wurde ins Meer hinabgelassen, und der Kapitän nebst zwei seiner Leute mit den Instrumenten, Conseil und mir, stiegen ein. Es war 10 Uhr vormittags. Ned Land sah ich

nicht, dem vermutlich der Augenschein des Südpollandes nicht angenehm war.

Mit einigen Ruderschlägen landete das Boot. Als eben Conseil herausspringen wollte, hielt ich ihn zurück.

»Mein Herr«, sagte ich zum Kapitän Nemo, »Ihnen gehört die Ehre, zuerst dieses Land zu betreten.«

»Ja, mein Herr«, erwiderte der Kapitän, »und ich eile, den Fuß auf diesen Boden des Südpols zu setzen, wo bis jetzt noch kein menschliches Wesen aufgetreten ist.«

Nach diesen Worten sprang er flink auf den Sand. In tiefer Rührung schlug ihm das Herz. Er stieg auf einen Felsen, der überhängend ein kleines Vorgebirge bildete, wo er mit gekreuzten Armen und glühendem Blick, stumm, unbeweglich verweilte. Er schien von diesem Südland Besitz zu nehmen. Nach 5 Minuten solcher Gemütserhebung wendete er sich zu uns und rief mir zu:

»Wenn es Ihnen beliebt, mein Herr.«

Ich stieg mit Conseil aus, die beiden Männer blieben im Boot.

Der Boden zeigte in weiter Ausdehnung einen Tuff von rötlicher Farbe, als bestehe er aus zerstampftem Ziegelstein. Von Schlacken, Lavarinnen, Bimssteinen bedeckt, ließ er seinen vulkanischen Ursprung nicht verkennen. An manchen Stellen bezeugten leichte Dünste von Schwefelgeruch, dass das innere Feuer noch fortdauernd tätig war. Doch sah ich von einer hohen Böschung aus im Umkreis von mehreren Meilen durchaus nichts von einem Vulkan.

Bekanntlich hat James Roß in dieser Südpolgegend unterm 167.

Meridian bei 77° 32ʹ Breite die Krater des Erebus und Terror in voller Tätigkeit angetroffen.

Die Vegetation dieses öden Kontinents schien mir äußerst beschränkt. Die magere Flora dieser Gegend bestand aus einigen Flechten auf den schwarzen Felsen, gewissen mikroskopischen Pflänzchen, eine Art Zellen in quarzartigen Muscheln, langem, purpur- und carmoisinfarbigem Seetang auf Schwimmbläschen.

Das Ufer war besät mit Mollusken, kleinen Muscheln aller Art, besonders von Clios mit länglichem, häutigem Leib, und einem aus zwei runden Lappen bestehenden Kopf. Ich sah auch Myriaden von den 3 Zentimeter langen, niedlichen Clios, von denen der Walfisch eine ganze Welt auf einmal verschlingt. Diese reizenden Flossenfüßler, wahre Seeschmetterlinge, belebten die freien Gewässer am Uferrand.

Von Zoophyten fanden sich da unter anderen in den höheren Schichten einige baumartige Korallengewächse, die in diesen Mee

ren bis zur Tiefe von 1.000 Meter fortkommen, und eine große Anzahl diesem Klima eigentümlicher Asterien und Seesterne.

Aber in der Luft war reiches Leben: Vögel verschiedener Gattungen flogen und flatterten da zu Tausenden und betäubten mit ihrem Geschrei. Andere bedeckten die Felsen, sahen uns ohne Schüchternheit an, und drängten sich vertraulich um uns; es waren Pinguine, die im Wasser ebenso flink und beweglich sind wie zu Lande unbeholfen und schwerfällig. Ferner bemerkte ich weiße Strandläufer mit kurzem Schnabel und einem roten Ring ums Auge; rußfarbige Albatros mit einer Flügelweite von 4 Meter; riesenhafte Sturmvögel, und eine Menge kleinerer dieser Gattung, teils blau, teils weißlich mit braun eingefassten Flügeln. Diese letzteren sind so ölhaltig, dass die Bewohner der Färoer-Inseln sie nur mit einem Docht versehen, um sie als Lampe zu gebrauchen.

Doch der Nebel stieg nicht auf, und um 11 Uhr war noch keine Sonne zu sehen. Dies beunruhigte mich; denn sonst war eine Beobachtung nicht möglich, und ohne diese ließ sich nicht feststellen, ob wir am Pol angekommen seien.

Als ich wieder zu Kapitän Nemo kam, fand ich ihn schweigend gegen einen Felsblock gelehnt und den Blick zum Himmel gerichtet. Er schien ungeduldig, missgestimmt. Aber was war da zu machen? Der kühne und mächtige Mann konnte der Sonne nicht so gebieten wie dem Meer.

Es kam der Mittag heran, ohne dass das Tagesgestirn einen Augenblick sichtbar wurde. Es ließ sich nicht einmal die Stelle erkennen, die es hinter dem Nebelvorhang einnahm. Bald löste sich der Nebel in Schnee auf.

»Auf morgen«, sagte nur der Kapitän zu mir, und wir begaben uns mitten im Schneegestöber zur ›Nautilus‹ zurück.

Während unserer Abwesenheit hatte man die Garne ausgesteckt, und ich betrachtete mit Interesse die Fische, die man an Bord gezogen hatte. Die Südpolarmeere dienen einer großen Anzahl von Wanderfischen zur Zuflucht, die aus den minder hohen Breitengraden entfliehen, um freilich den Meerschweinen und Robben unter die Zähne zu geraten.

Der Schneesturm dauerte bis zum folgenden Morgen. Auf der Plattform konnte man unmöglich bleiben. Vom Salon aus, wo ich die Begebenheiten dieses Ausfluges auf das Polarfestland notierte, vernahm ich das Geschrei der Sturmvögel und Albatrosse, die sich mitten im Unwetter ergötzten. Die ›Nautilus‹ lag nicht still; sie fuhr längs der Küste noch etwa 10 Meilen weiter nach Süden, umgeben von dem halben Licht, das die Sonne, indem sie am Rand des Horizonts streifte, hinter sich ließ.

Am folgenden Morgen, dem 20. März, hatte der Schneefall aufgehört. Die Kälte war etwas strenger, das Thermometer zeigte 2 Grad unter Null. Der Nebel stieg auf, und ich konnte hoffen, dass an diesem Tag unsere Beobachtung stattfinden könne.

Da Kapitän Nemo noch nicht erschienen war, so stieg ich mit Conseil in das Boot und setzte ans Land. Der Boden war von gleicher Beschaffenheit, vulkanisch: überall Spuren von Lava, Schlacken, Basalte, ohne dass man einen Krater sah, woraus sie hervorgegangen waren. Auch dieser Teil des Polarkontinents war von unzähligen Vögeln belebt. Aber sie teilten dieses Reich damals mit ungeheuren Herden von Seesäugetieren, die uns mit sanften Augen anblickten. Es waren Robben verschiedener Gattung, teils auf dem Boden gelagert, teils auf treibenden Eisblöcken; manche kamen aus dem Meer heraus oder gingen wieder hinein. Bei unserer Annäherung ergriffen sie nicht die Flucht, da sie noch nie mit Menschen zu tun gehabt hatten; und ich zählte ihrer so viele, dass man einige Schiffe damit hätte verproviantieren können.

»Wahrhaftig«, sagte Conseil, »es ist ein Glück, dass Ned Land nicht bei uns ist!«

»Warum, Conseil?«

»Weil der leidenschaftliche Jäger sie alle erlegt hätte.«

»Alle, das will viel heißen, aber ich glaube wirklich, dass wir unseren Freund, den Kanadier, nicht hätten abhalten können, einige dieser prächtigen Tiere zu harpunieren, und dies wäre Kapitän Nemo unlieb gewesen, da er nicht gern unnütz das Blut unschädlicher Tiere vergossen haben will.«

»Er hat recht.«

»Unstreitig, Conseil. Aber sag mir, hast du diese Prachtexemplare der Seefauna noch nicht klassifiziert?«

»Mein Herr weiß wohl«, erwiderte Conseil, »dass ich im Praktischen nicht sehr bewandert bin. Wenn ich ihre Namen weiß ...«

»Es sind Robben und Walrosse, deren verschiedene Arten wir, wenn ich nicht irre, hier zu beobachten Gelegenheit haben werden.

Machen wir uns auf den Weg.«

Es war 8 Uhr vormittags. Wir hatten noch 4 Stunden Zeit, bis die Sonne mit Vorteil beobachtet werden konnte. Ich lenkte unsere Schritte zu einer großen Bucht, die von den steilen Granitfelsen des Uferlandes gebildet wurde.

Da waren, ich kann wohl sagen in unabsehbarem Umkreis, die Landschaft und die Eisblöcke mit Seesäugetieren scharenweise bedeckt, sodass mein Blick unwillkürlich den alten Proteus suchte, der, wie die Sage will, Neptuns unzählbare Herden weidet.

Es waren vorzugsweise Robben, die gesonderte Gruppen bildeten, Männchen und Weibchen, der Vater seine Familie überwachend, die Mütter ihre Säuglinge stillend, einige halbwüchsige Junge in einiger Entfernung sich frei tummelnd. Wenn diese Robben von ihrer Stelle hinweg wollten, bewegten sie sich mit Zusammenziehung ihrer Leiber in kleinen Sprüngen, wobei ziemlich unbeholfen ihre mangelhaften Flossen sie unterstützten. Im Wasser jedoch, muss ich sagen, das vorzugsweise ihr Element ist, verstehen sich diese Tiere mit beweglichem Rückgrat, engem Becken, glattem, kurzhaarigem Fell und handförmigen Füßen vortrefflich aufs Schwimmen. Beim Ausruhen und auf dem Land nahmen sie äußerst graziöse Stellungen an. Daher haben auch die Alten, in Betracht ihrer sanften Züge, ihres ausdrucksvollen Blicks, der noch über den schönsten Frauenblick geht, ihrer samtartigen, klaren Augen, ihre reizenden Stellungen – dieselben, gemäß der ihnen eigentümlichen poetischen Anschauung, die Männchen in Tritonen, die Weibchen in Sirenen verwandelt.

Ich machte Conseil aufmerksam, wie bei diesen gescheiten Tieren das Gehirn bedeutend entwickelt ist. Kein Säugetier, ausgenommen der Mensch, hat eine reichlichere Gehirnmasse. Daher sind auch die Robben einer gewissen Erziehung fähig; sie lassen sich leicht zähmen, und ich bin mit einigen Naturforschern der

Meinung, dass sie, gehörig abgerichtet, bei der Fischerei wie Hunde zu gebrauchen sein würden.

Die meisten dieser Robben schliefen auf den Felsen oder dem Sande. Unter den eigentlichen Robben, die keine äußeren Ohren haben, beobachtete ich einige Varietäten, die 3 Meter lang, mit weißen Haaren und Bullenbeißerkopf, in jedem Kiefer zehn Zähne hatten. Zwischen ihnen sah man auch See-Elefanten, mit kurzem und beweglichem Rüssel, die Riesen der Gattung, 10 Meter lang, mit einem Umfang von 25 Fuß. Sie rührten sich nicht, als wir in die Nähe kamen.

»Es sind keine gefährlichen Tiere?« fragte Conseil.

»Nein«, erwiderte ich, »nur darf man sie nicht angreifen. Wenn ein Robbe sein Junges verteidigt, wird er furchtbar wütend, und nicht selten zertrümmert er ein Fischerboot.«

»Er ist dazu berechtigt«, versetzte Conseil.

»Ich widerspreche nicht.«

2 Meilen weiter waren wir durch ein Vorgebirge gehemmt, das die Bucht gegen die Südwinde schützte. Es fiel senkrecht ins Meer ab und schäumte beim Wellenschlag. Dahinter vernahm man fürchterliches Gebrüll, wie etwa von einer Herde Wiederkäuer.

»Schön«, sagte Conseil, »ein Konzert von Stieren?«

»Nein«, versetzte ich, »von Walrossen.«

»Sie sind im Kampf ?«

»Im Kampf oder beim Spiel.«

»Mit Erlaubnis, mein Herr, das müssen wir sehen.«

»Jawohl, Conseil.«

Wir überstiegen rasch die Felsen, indem wir über dem Glatteis der Steine häufig ausglitten. Manchmal fiel ich zu Boden, dass mich die Nieren schmerzten, Conseil, der vorsichtiger war oder fester auf den Füßen stand, wankte nicht und hob mich auf mit den Worten:

»Wenn mein Herr die Güte haben wollte, die Beine auseinanderzuspreizen, würde er besser das Gleichgewicht halten.«

Als wir auf dem höchsten Kamm des Vorgebirges ankamen, sahen wir auf eine ausgedehnte weiße Ebene, die mit Walrossen bedeckt war, die sich miteinander vergnügten. Es war Freudejauchzen, was wir gehört hatten.

Die Walrosse gleichen den Robben an Körperbildung und Anordnung der Gliedmaßen. Doch mangeln ihrem Unterkiefer die Hundezähne und Schneidezähne, und ihre oberen bestehen aus zwei 80 Zentimeter langen Hauern, die an der Wurzel einen Umfang von 33 Zentimeter haben. Diese Zähne, die aus gediegenem Elfenbein ohne Streifen bestehen, der härter wie das der Elefanten ist und nicht so leicht gelb wird, sind eine sehr gesuchte Ware. Daher macht man auch in unbesonnenster Weise Jagd auf die Walrosse, sodass sie bald völlig ausgetilgt sein werden; denn die Jäger, die jährlich etwa 4.000 erlegen, machen ohne Unterschied auch die trächtigen Weibchen und die Jungen nieder.

Als wir an den merkwürdigen Tieren vorbeikamen, konnte ich sie nach Muße betrachten, denn sie ließen sich nicht stören. Ihr Fell war dicht und runzelig, von heller ins Rote spielender Farbe, mit kurzen, nicht dichten Haaren. Manche waren 4 Meter lang. Ruhiger und weniger furchtsam als ihre Gattungsgenossen im Norden, stellen sie nicht zur Hut ihrer Lagerstätten Schildwachen aus.

Nach dieser Musterung dachte ich auf den Rückweg. Es war schon 11 Uhr, und wenn Kapitän Nemo sich in günstiger Lage zum Beobachten befand, wollte ich bei der Verrichtung zugegen sein.

Doch hatte ich keine Hoffnung, dass die Sonne an diesem Tag zum Vorschein kommen werde, da der mit gebrochenem Gewölk bedeckte Horizont sie unserem Anblick entzog.

Dennoch dachte ich an den Rückweg. Ein schmaler Anberg führte uns auf den Gipfel der Felswand. Um halb 12 langten wir an der Landungsstelle an. Das Boot hatte den Kapitän an Land gebracht. Er stand, von seinen Instrumenten umgeben, auf einem Basaltblock, den Blick unverwandt auf den Norden des Horizonts gerichtet, wo eben die Sonne ihre längliche Kurve beschrieb.

Ich stellte mich neben ihn und wartete still. Es kam die Mittagsstunde, und wie tags zuvor kam die Sonne nicht zum Vorschein.

Eine schlimme Sache. Es war noch die Beobachtung zu machen, um unsre Lage aufzunehmen. War dies morgen nicht ausführbar, so mussten wir definitiv darauf verzichten.

In der Tat, es war eben der 20. März, und morgen, am Äquinoktialtag, sollte die Sonne, abgerechnet die Strahlenbrechung, auf

6 Monate vom Horizont verschwinden und damit die lange Polarnacht beginnen. Seit dem Äquinoktium des September war sie am nördlichen Himmel aufgetaucht, um in langen Spirallinien bis zum 21. Dezember aufzusteigen. Von diesem Zeitpunkt der Sommersonnenwende des Nordens wieder hinabsteigend, sollte sie morgen ihre letzten Strahlen zusenden.

Ich teilte meine Besorgnisse Kapitän Nemo mit.

»Sie haben recht, Herr Arronax«, sagte er, »wenn ich morgen die Sonnenhöhe nicht aufnehme, kann ich vor Ablauf von 6 Monaten die Operation nicht wieder vornehmen. Aber auch, weil der Zufall mich auf meiner Fahrt gerade am 21. März in diese Meere geführt hat, werde ich die Aufnahme sehr leicht machen, wenn zu Mittag die Sonne sichtbar sein wird.«

»Warum, Kapitän?«

»Ich brauche dazu nur mein Chronometer anzuwenden«, erwiderte Kapitän Nemo. »Wenn morgen, am 21. März, um 12 Uhr mittags, die Sonnenscheibe, die Strahlenbrechung in Betracht gezogen, genau vom nördlichen Horizont durchschnitten wird, so bin ich am Südpol.«

»So ist’s wirklich«, sagte ich. »Doch ist die Behauptung nicht mathematisch genau zu nehmen, weil das Äquinoktium nicht notwendig auf 12 Uhr fällt.«

»Allerdings, mein Herr, aber der Irrtum wird keine 100 Meter betragen, und mehr bedürfen wir nicht. Auf morgen also.«

Kapitän Nemo kehrte an Bord zurück. Ich blieb mit Conseil bis 5 Uhr, und wir gingen die Küste auf und ab, mit Beobachten und Studien beschäftigt. Ich hob ein Pinguinei von merkwürdiger Größe auf, für das ein Liebhaber wohl 1.000 Franc gezahlt hätte.

Isabellenfarbig, mit Streifen und Zeichen gleich Hieroglyphen verziert, gab es ein seltenes Spielzeug ab. Ich übergab es den Händen Conseils, und der vorsichtige Junge, mit sicherem Tritt, hielt es wie kostbares chinesisches Porzellan und brachte es wohlbehalten zur ›Nautilus‹.

Hier legte ich das seltene Stück in einen Glaskasten des Museums. Ich verzehrte mit Appetit ein treffliches Stück Robbenleber, das fast wie Schweinefleisch schmeckte; und legte mich zu Bett.

Am folgenden Morgen, dem 21. März, stieg ich schon um 5 Uhr auf die Plattform, wo sich Kapitän Nemo bereits befand.

»Das Wetter heitert sich ein wenig auf«, sagte er zu mir. »Ich habe gute Hoffnung. Nach dem Frühstück wollen wir an Land gehen und eine gute Stelle für die Beobachtungen wählen.«

Ich war einverstanden und suchte Ned Land auf, um ihn mitzunehmen. Der Starrkopf weigerte sich, und ich sah wohl, dass seine Schweigsamkeit nebst seiner schlimmen Laune täglich zunahm.

Trotzdem hatte ich unter den gegebenen Umständen seinen Eigensinn nicht zu bedauern. Es waren so viele Robben an Land, und man durfte einen so unbesonnenen Jäger nicht der Versuchung aussetzen.

Als das Frühstück beendigt war, begab ich mich an Land. Die ›Nautilus‹ war während der Nacht noch einige Meilen höher hinaufgefahren. Sie befand sich auf hoher See, eine gute Meile von der Küste entfernt, die von einer spitzen, 500 Meter hohen Anhöhe beherrscht wurde. Auf dem Boot mit mir befanden sich Kapitän Nemo, zwei Leute der Bemannung und die Instrumente, nämlich ein Chronometer, ein Fernrohr und ein Barometer.

Während unserer Überfahrt sah ich zahlreiche Walfische von drei den südlichen Meeren eigentümlichen Arten. Sie belustigten sich truppweise in den ruhigen Gewässern, und man sah wohl, dass dieses Becken des Südpols gegenwärtig den allzu arg von den Jägern verfolgten Tieren dieser Art eine Zufluchtsstätte war. Sodann bemerkte ich lange weißliche Reihen Seescheiden, eine Art Mollusken, die in Gesellschaft zusammenleben, und stattliche Medusen, die zwischen den Wirbeln der Wellen schaukelten.

Um 9 Uhr landeten wir. Der Himmel klärte sich auf, die Wolken flohen nach dem Süden; die Nebel verließen die kalte Oberfläche der Gewässer. Kapitän Nemo ging auf die Anhöhe zu, die er wohl zu seinem Observatorium machen wollte. Das Hinaufsteigen über spitze Lavastücke und Bimssteine ist in einer häufig mit ausströmenden Schwefeldünsten durchdrungenen Luft beschwerlich.

Der Kapitän, der doch des Bergsteigens entwöhnt war, klimmte die steilsten Abhänge mit einer Leichtigkeit hinan, um die ein Gämsjäger ihn beneidet hätte.

Wir brauchten 2 Stunden, um auf den Gipfel der Anhöhe, die aus Porphyr und Basalt bestand, zu gelangen. Von hier aus blickten wir auf ein weites Meer, bis wo, das Himmelsgewölbe den Horizont begrenzte. Zu unseren Füßen blendende Schneefelder; über unserem Haupt blasses Blau, frei von Nebel. Im Norden erschien die Sonnenscheibe wie eine Feuerkugel, woraus die Linie des Ho

rizonts bereits einen Ausschnitt gemacht hatte. In der Ferne lag die

›Nautilus‹ wie ein schlafender Walfisch. Hinter uns, nach Süden und Osten, ein unermessliches Land, eine chaotische Häufung von Fels- und Eisblöcken in unabsehbarer Weite.

Als Kapitän Nemo auf dem Gipfel der Anhöhe ankam, nahm er vermittels des Barometers sorgfältig die Höhe auf.

Viertel vor 12 erschien die Sonne, die man damals nur durch Brechung des Lichts sah, wie eine goldene Scheibe, die ihre letzten Strahlen auf den verlassenen Kontinent warf.

Kapitän Nemo beobachtete durch ein mit einem Netz versehenes Fernrohr, das vermittels eines Spiegels die Strahlenbrechung korrigierte, das Gestirn, das in einer sehr langen Diagonale allmählich unter den Horizont hinabsank. Ich hielt das Chronometer mit klopfendem Herzen. Wenn das Verschwinden der hellen Sonnenscheibe mit 12 Uhr des Chronometers zusammentraf, so befanden wir uns am Pol.

»12 Uhr«, rief ich aus.

»Der Südpol«, erwiderte Kapitän Nemo mit ernster Stimme, indem er mich in das Fernrohr sehen ließ, das zeigte, wie das Tagesgestirn vom Horizont genau in zwei gleiche Teile geschnitten war.

Ich sah, wie die letzten Strahlen auf die Anhöhe fielen und das Dunkel allmählich sich ihren Abhang hinaufzog.

Darauf legte Kapitän Nemo seine Hand auf meine Schulter und sagte zu mir:

»Mein Herr, im Jahr 1600 erreichte der Holländer Gherrick, durch Stürme verschlagen, 64° südlicher Breite und entdeckte New-Shetland. Im Jahr 1773 kam der berühmte Cook längs dem 38. Meridian bis zu 67° 30ʹ und 1774 auf dem 109. Meridian bis 71° 15ʹ Breite. Im Jahr 1819 befand sich der Russe Bellinghausen auf dem 69., und 1821 auf dem 66. Parallelkreis unter 111° westlicher Länge. Im Jahr 1820 fuhr der Amerikaner Morrel, dessen Berichte zweifelhaft sind, auf dem 42. Meridian und entdeckte das freie Meer unter 70° 14ʹ Breite. Im Jahr 1825 konnte der Engländer Po well nicht über den 62. Grad. Im selben Jahr drang ein einfacher Robbenjäger, der Engländer Weddell, bis zum 72° 14ʹ der Breite auf dem 35. Meridian und bis zu 74° 15ʹ auf dem 36. Im Jahr 1829

nahm der Engländer Forster, Kommandant des Chanticleer, Besitz vom Südpolkontinent unter 63° 26ʹ Breite und 66° 26ʹ Länge.

Im Jahr 1831 entdeckte der Engländer Biscoë am 1. Februar das Land Enderby unter 68° 50ʹ Breite, 1832 den 5. Februar das Land Adelaide unter 67° Breite und am 21. Februar das Grahamland unter 64° 45ʹ Breite. Im Jahr 1838 musste der Franzose Dumont d’Urville vor der Eisdecke unter 62° 57ʹ Breite haltmachen, nahm jedoch das Land Louis-Philippe auf; 2 Jahre später unter 66° 30ʹ das Land Adelie und gleich darauf unter 64° 40ʹ die Küste Clane.

Im Jahr 1838 kam der Engländer Wilkes bis zum 69. Breitengrad auf dem 100. Meridian; 1839 entdeckte der Engländer Balleny das Land Sabrina an der Grenze des Polarkreises. Endlich entdeckte der Engländer James Roß mit dem Erebus und Terror unter 76° 56ʹ

Breite und 171° 7ʹ Länge das Land Victoria; sodann nahm er unter 74° Breite den höchsten damals erreichten Punkt auf; nachher kam er noch zu 76° 8ʹ; 77° 32ʹ und 78° 4ʹ; im Jahr 1842 kam er wieder, konnte aber nicht über den 71. Grad dringen. Nun aber habe ich, Kapitän Nemo, am 21. März 1868 den Südpol unterm 90. Grad erreicht, und ich nehme von diesem Teil des Erdkreises Besitz.«

»In wessen Namen, Kapitän?«

»In meinem eigenen, mein Herr!«

Und bei diesen Worten entfaltete Kapitän Nemo eine schwarze Flagge mit einem goldenen N.

Darauf zum Tagesgestirn gewendet, dessen letzte Strahlen den Horizont des Meeres berührten, rief er aus:

»Lebe wohl, Sonne, und lasse eine 6monatige Nacht ihre Schatten über mein neues Reich breiten!«

 

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