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8. KAPITEL

Die Bai von Vigo

Der Atlantik! Die ungeheure Wasserfläche umfasst 25 Millionen Quadratmeilen, bei einer Länge von 9.000 Meilen gegen eine mittlere Breite von 2.700 Meilen. Das nun so bedeutende Meer war im Altertum fast nicht gekannt, außer vielleicht den Karthagern, die bei ihren Handelsfahrten längs den Westküsten Europas und Afrikas segelten. Seine Gestade mit parallelen Krümmungen bilden eine ungeheure Umfangslinie, und es münden in dasselbe die größten Ströme der Welt, St. Lorenz, Mississippi, Amazonas, La Plata, Orinocco, Niger, Senegal, Elbe, Loire, Rhein, und führen ihm die Gewässer aus den zivilisiertesten Ländern und den wildesten Gegenden zu. Die prachtvolle Fläche ist beständig von den Schiffen aller Nationen unterm Schutz aller Flaggen der Welt befahren.

Die ›Nautilus‹ hatte bis zur Stunde nahezu 10.000 Lieue in 3 1/2

Monaten zurückgelegt, was mehr beträgt als der Umfang des ganzen Erdkreises. Wohin fuhren wir jetzt, und was sollte uns bevorstehen?

Sobald wir aus der Straße von Gibraltar heraus waren, fuhr die

›Nautilus‹ in die hohe See und tauchte zur Oberfläche empor, sodass  wir wieder unseren täglichen Spaziergang auf der Plattform machen konnten.

Ich stieg sogleich in Gesellschaft von Ned Land und Conseil hinauf. 12 Meilen entfernt sah man in unbestimmten Umrissen das Kap St. Vincent, die südwestliche Spitze der spanischen Halbinsel.

Es wehte ein ziemlich starker Südwind. Das Meer war unruhig,

die Fluten gingen hoch, brachte durch arge Stöße die ›Nautilus‹ in Schwankung, sodass man sich auf der Plattform fast nicht aufrecht halten konnte. Wir begaben uns also, nachdem wir uns ein wenig an der frischen Luft erquickt hatten, wieder hinab.

Ich ging in mein Zimmer, Conseil in seine Kabine, aber der Kanadier folgte mir nach mit etwas befangener Miene. Unsere rasche Fahrt durchs Mittelmeer hatte ihm nicht gestattet, sein Vorhaben in Ausführung zu bringen, und er konnte sein Missbehagen kaum verheimlichen.

Als die Tür meines Zimmers geschlossen war, setzte er sich nieder und sah mich schweigend an.

»Freund Ned«, sagte ich zu ihm, »ich verstehe Sie, aber Sie haben sich keinen Vorwurf zu machen. Unter den Umständen der Fahrt der ›Nautilus‹ wäre der Gedanke an ein Entfliehen Narrheit gewesen!«

Ned Land schwieg. Aus seinen zusammengepressten Lippen, der gerunzelten Stirn konnte man abnehmen, dass er stark von einer fixen Idee befangen war.

»Sehen wir«, fuhr ich fort, »es ist noch nichts verloren. Wir fahren längs der portugiesischen Küste, sind nicht weit von Frankreich und England, wo wir leicht eine Zufluchtsstätte finden würden. Ja, wenn die ›Nautilus‹, als wir aus der Straße von Gibraltar herauskamen, sogleich südwärts gesteuert wäre; hätte sie uns in Gegenden geschleppt, wo die Kontinente mangeln, so würde ich Ihre Unruhe teilen. Aber wir wissen jetzt, Kapitän Nemo meidet nicht die zivilisierten Länder, und ich glaube, dass Sie in einigen Tagen mit einiger Sicherheit werden handeln können.«

Ned Land sah mich noch starrer an, öffnete endlich die Lippen und sagte: »Diesen Abend soll’s sein.«

Ich nahm mich schnell zusammen. Ich war, gestehe ich, auf diese Mitteilung nicht gefasst. Gern hätte ich dem Kanadier geantwortet, aber es versagten mir die Worte.

»Wir waren darüber einig, eine Gelegenheit abzuwarten«, fuhr Ned Land fort. »Eine solche ist nun da. Wir werden diesen Abend nur einige Meilen von der spanischen Küste entfernt sein. Die

Nacht ist dunkel; der Wind weht günstig. Ich habe Ihr Wort, Herr Arronax, und ich rechne auf Sie.«

Da ich fortwährend schwieg, stand der Kanadier auf, trat zu mir heran und sagte:

»Diesen Abend um 9 Uhr. Ich hab’s Conseil schon gesagt. Dann wird Kapitän Nemo in seiner Kammer sein und wahrscheinlich schon zu Bett. Weder die Maschinisten noch jemand von der Mannschaft kann uns sehen. Conseil und ich werden uns auf die Zentralleiter begeben; Sie, Herr Arronax, werden in der Bibliothek sich aufhalten und auf mein Signal warten. Ruder, Mast und Segel befinden sich schon im Boot. Ich habe sogar einige Lebensmittel hingeschafft. Ich habe mir einen Schraubenschlüssel verschafft, um das Boot von der ›Nautilus‹ loszumachen. So ist alles vorbereitet. Also diesen Abend.«

»Das Meer ist nicht günstig«, sagte ich.

»Ich geb’s zu«, erwiderte der Kanadier, »aber man muss es riskieren. Die Freiheit will bezahlt sein. Übrigens ist das Boot solid, und einige Meilen mit treibendem Wind haben nicht viel auf sich. Wer weiß, ob wir nicht binnen heut und morgen 100 Meilen weit in die hohe See kommen. Wenn uns die Umstände günstig sind, werden wir zwischen 10 und 11 Uhr an einem Punkt des festen Landes ausgeschifft, oder nicht mehr unter den Lebenden sein. Darum, Gott befohlen, und diesen Abend!«

Nach dieser Äußerung zog sich der Kanadier zurück und ließ mich in ziemlicher Bestürzung. Ich hatte gedacht, wann der Fall einträte, würde ich Zeit zu überlegen, zum Besprechen haben. Mein starrköpfiger Genosse gestattete mir das nicht. Was hätte ich ihm auch trotzdem sagen können? Ned Land hatte hundertmal recht. Es war beinah ein günstiger Umstand, den er benutzen wollte. Konnte ich die Verantwortlichkeit übernehmen, aus persönlichem Interesse die Zukunft meiner Gefährten zu beeinträchtigen? Konnte nicht morgen Kapitän Nemo uns in die weite See hinaus nach allen Weltgegenden hin schleppen?

In diesem Augenblick gab mir ein ziemlich starkes Zischen zu erkennen, dass die Behälter gefüllt wurden, und die ›Nautilus‹

tauchte unter in die atlantischen Wogen.

Ich blieb auf meinem Zimmer. Ich wollte dem Kapitän aus dem Weg gehen, um die Bewegung, die mich beherrschte, ihm zu verbergen. So brachte ich einen traurigen Tag hin im Schwanken zwischen dem Wunsch, wieder in Besitz meiner freien Verfügung über mich zu gelangen, und dem Bedauern, diese merkwürdige ›Nautilus‹ zu verlassen, ohne meine unterseeischen Studien zu vollenden; diesen meinen Ozean, wie ich ihn schon gern nannte, ohne seine tiefsten Schichten untersucht, ohne die Geheimnisse, die mir die Gewässer der Indischen Meere und des Pazifiks enthüllt hatten, auch ihm abzulauschen! Mein Roman fiel mir beim ersten Band aus den Händen, mein Traum zerrann im schönsten Moment!

Schlimme Stunden waren dies, während ich bald mich samt meinen Gefährten an Land in Sicherheit sah, bald im Widerspruch mit meiner Vernunft wünschte, es möge ein unvorhergesehener Umstand die Verwirklichung der Projekte Ned Lands hindern.

Ich begab mich zweimal in den Salon. Ich wollte den Kompass befragen. Ich wollte nachsehen, ob die Richtung der ›Nautilus‹ uns wirklich der Küste näher oder von ihr weg führte. Nein. Die ›Nautilus‹ hielt sich unverändert in den portugiesischen Gewässern, in nördlicher Richtung längs den Gestaden des Ozeans.

Man musste dieses benutzen und zur Flucht sich bereit machen.

Mein Gepäck war nicht schwer: meine Notizen, nichts weiter.

Ich fragte mich weiter, wie Kapitän Nemo unser Entweichen aufnehmen; welche Unruhe, vielleicht Kränkungen es ihm bereiten würde; was er wohl tun würde, wenn der Plan ihm enthüllt oder vereitelt würde. Ich hatte gewiss nicht über ihn zu klagen, im Gegenteil, nirgends war mir eine aufrichtigere Gastfreundschaft zuteilgeworden wie bei ihm. Doch konnte man mich nicht des Undanks beschuldigen, wenn ich ihn verließ. Wir waren durch keinen Eid an ihn gebunden. Er zählte allein auf die Gewalt der Dinge und nicht auf unser Wort, um uns auf immer in seine Nähe zu fesseln. Aber diese offen ausgesprochene Absicht, uns ewig als Gefangene an seinem Bord festzuhalten, rechtfertigte unsere Gegenbemühungen.

Seit unserem Besuch auf der Insel Santorin hatte ich den Kapitän nicht wieder gesehen. Sollte der Zufall mich vor unserem Entweichen noch einmal mit ihm zusammenbringen? Ich wünschte

und fürchtete es zugleich. Ich horchte, ob ich ihn nicht in seinem an das meinige stoßenden Zimmer auf und ab gehen hören könnte.

Ich vernahm nicht das geringste Geräusch; das Zimmer war ohne Zweifel leer.

Darauf fragte ich mich sogar, ob dieser seltsame Mann an Bord sei. Seit jener Nacht, in der das Boot die ›Nautilus‹ um einer geheimnisvollen Verrichtung willen verlassen, hatten sich meine Ideen in Hinsicht darauf ein wenig geändert. Ich dachte, was er auch sagen mochte, Kapitän Nemo müsse wohl einige Verbindungen gewisser Art mit der Erde unterhalten haben. Verließ er niemals die ›Nautilus‹? Oft verflossen ganze Wochen, ohne dass ich mit ihm zusammentraf. Was trieb er unterdessen? Und während ich glaubte, er sei einer Anwandlung von Menschenhass anheimgefallen, vollführte er nicht indessen in der Entfernung einen stillen Akt, dessen Natur mir bis jetzt verborgen geblieben?

Alle diese Ideen bestürmten mich mit einem Mal. In der seltsamen Lage, worin wir uns befanden, konnte das Feld der Vermutungen nur ein unendliches sein. Ich empfand ein unerträgliches Missbehagen. Dieser Tag schien kein Ende nehmen zu wollen. Meiner Ungeduld flossen die Stunden zu langsam hin.

Mein Diner wurde mir wie immer auf mein Zimmer gebracht.

Das Essen schmeckte mir nicht, da ich zu sehr von Gedanken eingenommen war. Um 7 Uhr stand ich von der Tafel auf. Nur noch 120

Minuten, bis ich mit Ned Land zusammenkommen sollte. Meine Unruhe verdoppelte sich. Mein Puls schlug ungestüm; ich konnte mich nicht stillhalten, ging hin und her, hoffte durch die Bewegung den Aufruhr meines Geistes zu stillen. Der Gedanke an ein Misslingen unseres verwegenen Vorhabens war mir am wenigsten peinlich; aber es pochte doch mein Herz bei dem Gedanken, dass dasselbe, bevor wir die ›Nautilus‹ verlassen, entdeckt und ich vor das Angesicht des entrüsteten Kapitäns zurückgebracht würde.

Ich wollte zum letzten Mal den Salon sehen, schlich mich durch den Gang und kam in das Museum, wo ich so viele angenehme und nützliche Stunden hingebracht hatte. Ich schaute mir alle diese Schätze und Kleinodien noch einmal an, als sollte ich in ein ewiges Exil gehen. Ich war im Begriff, diese Wunder der Natur, diese

Meisterwerke der Kunst, die mir so lieb geworden, auf immer zu verlassen.

Indem ich so den Salon durchlief, kam ich an die Tür, die in das Zimmer des Kapitäns führte. Zu meinem großen Erstaunen war sie halb geöffnet. Ich fuhr unwillkürlich zurück. Wenn Kapitän Nemo in seinem Zimmer war, konnte er mich sehen. Doch da ich kein Geräusch hörte, trat ich näher. Das Zimmer war leer; ich drückte die Tür auf, tat einige Schritte hinein. Stets das gleiche mönchische Aussehen.

Jetzt fielen mir einige an den Wänden hängende Kupferstiche auf, die ich früher übersehen hatte. Es waren Brustbilder der großen historischen Männer, deren Dasein eine ununterbrochene Hingebung an eine große menschliche Idee enthielt, Kosziusko, Botzaris, Oconnel, Washington, Manin, Lincoln und endlich der Märtyrer der Negerbefreiung John Brown.

Welches Band einigte diese heroischen Seelen mit der von Kapitän Nemo? Konnte ich endlich das Geheimnis seines Lebens lösen? War er der Kampfheld unterdrückter Völker, Befreier der Sklavenmassen? Hatte er in den letzten politischen oder sozialen Bewegungen dieses Jahrhunderts eine Rolle gespielt?

Plötzlich schlug es 8 Uhr. Der erste Glockenschlag riss mich aus meinen Träumen. Ich zitterte, als hätte ein unsichtbares Auge ins tiefste Geheimnis meiner Gedanken dringen können, und stürzte zum Zimmer hinaus.

Hier hafteten meine Blicke auf dem Kompass. Die Richtung unserer Fahrt war stets nördlich. Das Log zeigte eine mäßige Schnelligkeit, das Manometer eine Tiefe von etwa 60 Fuß.

Die Umstände waren also dem Vorhaben des Kanadiers günstig.Ich ging wieder in mein Zimmer und kleidete mich rasch an: Seestiefel, Ottermütze, Reiserock von Byssus mit Robbenfell gefüttert. Nun war ich fertig, ich wartete. Der Wellenschlag der Schraube allein unterbrach die tiefe Stille, die an Bord herrschte. Ich horchte, spitzte mein Ohr. War nicht aus einigen Stimmen, die man plötzlich vernahm, abzunehmen, dass Ned Land bei seinem Entweichungsplan war überrascht worden? Eine Unruhe zum Sterben

befiel mich. Vergeblich trachtete ich meine Gemütsruhe wiederzugewinnen.

Einige Minuten vor 9 Uhr lauschte ich an der Tür des Kapitäns.

Kein Geräusch. Ich verließ mein Zimmer und begab mich wieder in den Salon, der in halbem Dunkel war, aber niemand anwesend.

Ich öffnete die Tür zur Bibliothek. Sie war ebenso düster, ebenso leer. Ich stellte mich neben die Tür, die zur Mittelstiege führte und wartete auf Ned Lands Zeichen.

In dem Moment wurden die Bewegungen der Schraube merklich schwächer, dann hörte sie gänzlich auf. Weshalb diese Veränderung? Sollte dieses Anhalten das Vorhaben Ned Lands begünstigen oder stören? Ich konnte es nicht sagen.

Nur noch meine Pulsschläge unterbrachen die Stille.

Plötzlich verspürte man einen leichten Stoß. Ich merkte, dass die

›Nautilus‹ auf dem Meeresgrund hielt. Meine Unruhe verdoppelte sich. Kein Signal vom Kanadier war zu vernehmen. Ich hatte Lust, Ned Land aufzusuchen, um ihn aufzufordern, seinen Versuch zu verschieben, denn wir fuhren jetzt nicht mehr unter den gewöhnlichen Bedingungen ...

In dem Augenblick öffnete sich die Tür des großen Saals, und Kapitän Nemo erschien. Er bemerkte mich und sagte ohne Weiteres:»Ah! Herr Professor«, sagte er in liebenswürdigem Ton, »ich suchte Sie. Kennen Sie die Geschichte Spaniens?«

Mag man die Geschichte seines eigenen Landes noch so gründlich verstehen, in einer Lage, wie die Meinige war, den Geist verstört, den Kopf verloren, wäre es unmöglich, ein Wort daraus anzuführen.

»Nun?« wiederholte Kapitän Nemo, Sie haben meine Frage gehört? Kennen Sie die Geschichte Spaniens?«

»Sehr wenig«, erwiderte ich.

»Das sind rechte Gelehrte«, sagte der Kapitän, »die nichts wissen. Dann setzen Sie sich«, fuhr er fort, »und ich will Ihnen eine merkwürdige Episode aus der spanischen Geschichte erzählen.«

Der Kapitän lagerte sich auf einen Diwan, und ich setzte mich neben ihn im Halbdunkel.

»Herr Professor«, sagte er zu mir, »geben Sie wohl acht. Diese Geschichte wird Sie in gewisser Hinsicht interessieren, denn sie wird auf eine Frage antworten, die Sie wohl noch nicht zu lösen vermochten.«

»Ich gebe acht, Kapitän«, sagte ich, »indem ich nicht wusste, wo er damit hinauswollte, und fragte mich, ob dieser Zwischenfall sich auf unser Fluchtprojekt beziehe.

»Herr Professor«, fuhr Kapitän Nemo fort, »wenn es Ihnen beliebt, gehen wir bis auf 1702 zurück. Es ist Ihnen bekannt, dass damals Ihr König Ludwig XIV., in der Meinung, ein Machtherrscher brauche nur die Hand aufzuheben, um die Scheidewand der Pyrenäen niederzuwerfen, seinen Enkel, den Herzog von Anjou, den Spaniern zum König aufnötigte. Dieser Prinz, der unter dem Namen Philipp V. regierte, fand im Ausland starken Widerstand.

»In der Tat hatten im Jahr zuvor die Königshäuser von Holland, Österreich und England im Haag einen Allianztraktat geschlossen, um Philipp V. die spanische Krone zu entreißen und einem Erzherzog auf das Haupt zu setzen, dem sie zu früh den Namen Karl III. gaben.

Spanien musste dieser Koalition Widerstand leisten, aber es war fast ohne Soldaten und Seeleute. Doch an Gold fehlte es ihm nicht, freilich unter der Bedingung, dass seine mit Gold und Silber beladenen Galionen aus Amerika in seine Häfen einlaufen konnten.

Nun erwartete es gegen Ende des Jahres 1702 eine reiche Sendung, unter Bedeckung einer französischen Flotte von 23 Schiffen unter dem Oberbefehl des Admirals Château-Renaud, denn die Flotten der Alliierten kreuzten damals im Atlantik.

Diese Sendung sollte zu Cadiz landen; aber da der Admiral hörte, dass in jener Gegend die englische Flotte kreuzte, beschloss er einen französischen Hafen aufzusuchen.

Die spanischen Befehlshaber der Sendung protestierten gegen diesen Beschluss. Sie wollten in einen spanischen Hafen einlaufen und in Ermangelung von Cadiz in die Bai von Vigo an der Nordwestküste Spaniens, die nicht blockiert war.

Der Admiral Château-Renaud war schwach genug, dieser Zu

mutung Folge zu geben, und die Galionen liefen in die Bai von Vigo ein.

Leider hat diese Bai nur eine offene Reede, die nicht verteidigt werden kann. Man musste daher schleunigst, bevor die Flotten der Koalierten herankamen, die Galionen ausladen, und es hätte auch dafür nicht an Zeit gemangelt, wäre nicht plötzlich eine elende Rivalitätsfrage entstanden.

Sie folgen wohl dem Zusammenhang der Tatsachen?« fragte mich Kapitän Nemo.

»Vollständig«, sagte ich, indem ich noch nicht wusste, weshalb er mir diese historische Lektion erteilte.

»Ich fahre fort. Hören Sie, was vorging. Die Kaufmannschaft zu Cadiz hatte ein Privileg, wonach alle Waren aus Westindien dort mussten ausgeladen werden. Diesem Vorrecht also widersprach es, dass man die Goldbarren zu Vigo auslud. Auf ihre Beschwerde gewährte ihnen der schwache Philipp V., dass die Sendung, ohne ausgeladen zu werden, auf der Reede zu Vigo in Sequester bleiben sollte, bis die feindlichen Flotten sich wieder entfernt haben würden.Während man nun diesen Bescheid gab, erschien am 22. Oktober 1702 die englische Flotte in der Bai von Vigo. Der Admiral Château-Renaud, obwohl schwächer an Streitkräften, kämpfte tapfer. Als er aber sah, dass die Schätze in die Hände der Feinde fallen mussten, steckte er seine Galionen in Brand und versenkte sie samt ihrer reichen Ladung.«

Hier hielt der Kapitän inne. Ich gestehe, ich sah noch nicht, worin das Interesse dieser Geschichte für mich liegen sollte.

»Nun?« fragte ich.

»Nun, Herr Arronax«, erwiderte Kapitän Nemo, »wir befinden uns eben in dieser Bai von Vigo, und es steht bei uns, in ihre Geheimnisse zu dringen.«

Der Kapitän stand auf und bat mich, ihn zu begleiten. Ich hatte Zeit gehabt, mich zu fassen. Ich folgte. Der Salon war dunkel, aber durch die Fenster funkelten die Meeresfluten. Ich schaute.

In einem Umkreis von einer halben Meile um die ›Nautilus‹ herum waren die Gewässer von elektrischem Licht durchdrungen.

Ein Teil der Mannschaft mit Skaphandern gepanzert, war beschäftigt, halb verfaulte Fässer abzuräumen und Kisten zu leeren inmitten des schwarzen Strandgutes. Aus diesen Kisten und Tonnen kamen Gold- und Silberbarren zum Vorschein, Piaster und Edelsteine gleich Springwassern. Der Sand war damit bedeckt. Beladen mit so kostbarer Beute, brachten diese Männer sie zur ›Nautilus‹,

legten sie nieder und setzten dann ihr Fischen in der unerschöpflichen Quelle fort.

Ich verstand wohl, dass an dieser Stelle am 22. Oktober 1702 die Schlacht vorgefallen und die für Rechnung der spanischen Regierung geladenen Galionen versenkt waren. Hierhin begab sich Kapitän Nemo, um nach Bedürfnis Millionen einzukassieren und sie als Ballast mitzunehmen. Für ihn allein hatte Amerika diese reichen Schätze gesendet. Er war direkter Universalerbe der den Inkas und den von Ferdinand Cortez überwundenen Eingeborenen entrissenen Schätze.

»Wussten Sie, Herr Professor«, fragte er mich lächelnd, »dass das Meer solche Schätze birgt?«

»Ich wusste«, erwiderte ich, »dass man das in den Gewässern außer Umlauf gesetzte Geld auf 2 Millionen Tonnen anschlägt.«

»Allerdings, aber um es heraufzuholen, würden die Kosten den Gewinn überwiegen. Hier dagegen habe ich nur zusammenzuraffen, was die Menschen verloren haben, und nicht bloß in dieser Bai von Vigo, sondern auch noch unzähligen anderen Stellen von Schiffbruch, die auf meiner unterseeischen Karte notiert sind. Begreifen Sie jetzt, dass ich einen Reichtum von Milliarden habe?«

»Jawohl, Kapitän. Gestatten Sie mir jedoch Ihnen zu sagen, dass Sie mit dem Ausbeuten dieser Bai nur den Arbeiten einer rivalisierenden Gesellschaft zuvorgekommen sind.«

»Und welcher?«

»Einer Gesellschaft, die von der spanischen Regierung das Privilegium erhalten hat, die versenkten Galionen aufzusuchen. Die Aktionäre werden durch den Köder einer ungeheuren Dividende angelockt, denn man schlägt den Wert dieser versenkten Schätze auf 500 Millionen an.«

»500 Millionen!« erwiderte Kapitän Nemo. »Sie waren vorhanden, sind’s aber nicht mehr.«

»Wirklich«, sagte ich. »Daher wäre eine angemessene Warnung an die Aktionäre eine Wohltat. Wer weiß übrigens, ob man’s danken würde. Die Spieler bedauern bei alledem meist weniger die Einbuße an Geld als an törichten Hoffnungen. Trotzdem bedaure ich sie weniger als die Tausende von Unglücklichen, denen bei richti

ger Verteilung solche Schätze nützen konnten, während sie nun für sie auf immer unfruchtbar sind!«

Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, als ich merkte, dass sie Kapitän Nemo verletzen mussten.

»Unfruchtbar!« erwiderte er lebhaft. »Glauben Sie denn, mein Herr, dass diese Schätze verloren sind, wenn ich sie hole? Nicht für

mich selbst, wie Sie meinen, gab ich mir die Mühe, diese Schätze zu heben. Woher wissen Sie denn, dass ich nicht einen guten Gebrauch davon mache? Glauben Sie, ich wisse nicht, dass es auf dieser Erde leidende Geschöpfe gibt, unterdrückte Rassen, Unglückliche zu unterstützen, Opfer zu rächen? Begreifen Sie nicht? ...«

Bei diesen letzten Worten hielt Kapitän Nemo ein, vielleicht bedauernd, dass er zu viel gesprochen habe. Aber ich hatte es geahnt.

Welche Beweggründe auch ihn gedrungen hatten, die Unabhängigkeit unterm Meer zu suchen, vor allem war er Mensch geblieben!

Sein Herz schlug noch bei den Leiden der Menschheit und seine unbegrenzte Barmherzigkeit wendete sich sowohl den unterdrückten Rassen als dem einzelnen zu!

Jetzt begriff ich auch, welche Bestimmung jene Millionen hatten, die Kapitän Nemo ausschiffte, als die ›Nautilus‹ in den Gewässern der im Aufstand begriffenen Insel Kreta fuhr!

 

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