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Erstes Abenteuer.

Der Abschied war genommen, der Commerzienrath hatte sich aber schon vorher ernstlich von Dorothee sowol wie von seinen ihn begleitenden Bekannten den Titel verbeten, und Herr Mahlhuber, wie er jetzt schlechtweg hieß, war eben noch einmal im Wagen aufgestanden, sein Rücken- oder Sitzkissen anders zu ordnen, als die Peitsche des Postillons mit kräftigem Schwunge die eingespannten Pferde traf und diese so rasch und plötzlich anzogen, daß sich der darauf ganz Unvorbereitete mit einem Schwung und Wurf auf den Schoos des Fremden setzte.

„Bitte tausend mal um Entschuldigung!“ rief er, so rasch ihm das möglich war wiederaufschnellend den eigenen Sitz einzunehmen und eine verbindliche Verbeugung gegen den Fremden machend, die beinahe für die Dame verderblich geworden wäre -- „ich dachte gar nicht, daß wir so schnell abfahren würden; es kann kaum 11 Uhr sein.“

Der Fremde erwiderte kein Wort; er hatte erst die Brauen finster zusammengezogen, aber ein Blick auf den Mann selber mochte ihm wol sagen, mit wem er es hier eigentlich zu thun habe. So sein Gesicht nun wieder in die frühern ruhigen Falten legend, sah er still und ernst gerade auf die ihm gegenüberbefindliche Nr. 2, als ob der Herr Commerzienrath gar nicht in der Welt gewesen wäre.

„Setzen Sie sich nur um Gotteswillen erst einmal hin“, sagte die Dame, die indessen die Hand schützend vorgehalten hatte und jeden Augenblick einen ähnlichen Ueberfall wie auf den Fremden erwartet zu haben schien, „meine Nerven sind so schon so aufgeregt und angegriffen.“

Herr Mahlhuber drehte sich rasch nach der schönen Sprecherin um, und diesmal brachte ihn das Straßenpflaster mit einem plötzlichen Ruck gerade und glücklicherweise in seinen eigenen Sitz; das furchtbare Rasseln und Schütteln des Wagens unterbrach oder verhinderte dabei vielmehr auch jede nur mögliche Unterhaltung. Es ließ sich kein Wort verstehen und die Passagiere drückten sich schweigend in ihre verschiedenen Ecken und sahen die niedern Häuser von Gidelsbach, der Commerzienrath mit einem eigenen Gefühle stiller Wehmuth, die andern Beiden vollkommen gleichgültig, an sich vorübergleiten.

„Ach dürfte ich Sie wol bitten, das Fenster dort an Ihrer Seite aufzuziehen“, brach die Dame endlich das Stillschweigen, als sie die letzten Häuser von Gidelsbach hinter sich gelassen und die Luft frei und frisch über die blühenden Saatfelder herüberstrich, „ich leide so sehr an Zähnen und fürchte, daß mir der Luftzug schaden könnte.“

Der Fremde gegenüber rührte und regte sich nicht, und der Commerzienrath sah erst die Dame und dann sein +vis-à-vis+ etwas bestürzt an; er hatte die stille Hoffnung gehegt die Erlaubniß zu bekommen, eine gidelsbacher Cigarre anzuzünden, und wenn das Fenster, die wundervolle warme Luft draußen gar nicht in Betracht gezogen, geschlossen wurde, war daran nicht mehr zu denken.

„Wollen Sie nicht so gut sein und das Fenster da bei sich zumachen“, sagte die Dame wieder, ohne ihm lange Zeit zum Ueberlegen zu gestatten, mit etwas lauterer Stimme, als ob sie fürchte, daß er am Ende schwer höre, „ich kann die Luft nicht vertragen.“

„Aber, Madame, bei diesem wundervollen Wetter“, wagte der Commerzienrath eine oberflächliche Bemerkung, die ihm jedoch nichts half, denn die Dame, von etwas resolutem Charakter und wahrscheinlich schon mehrfach auf Reisen gewesen, stand einfach auf, bog sich über ihren etwas scheu zurückweichenden Nachbar hinweg, stützte sich mit der linken Hand gegen den Fensterrahmen und zog die Scheibe selber in die Höhe. Es war Herrn Mahlhuber dabei fast so als ob sie etwas vor sich hingemurmelt hätte, was gerade nicht wie ein Segen klang, er konnte es aber nicht genau verstehen und war auch wirklich durch die entschiedene Bewegung viel zu sehr überrascht, recht darauf zu achten.

Jede möglich gewesene Unterhaltung schien dadurch wieder ins Stocken zu gerathen, und während der Mann ihm gegenüber -- muthmaßlicherweise ein Engländer -- stumm zu sein schien, zog die Dame aus einem großen, inwendig mit grünem Wachstaffet gefütterten Kober eine Anzahl Victualien, gestrichene Semmeln, Wurst, Käse und gebratenes Huhn, heraus und begann ihre Mittagsmahlzeit, auf der nächsten Station wahrscheinlich die Table d’Hôte, wozu der Conducteur gewöhnlich zehn Minuten Zeit gestattete, zu ersparen.

Der Commerzienrath fügte sich in sein Schicksal, rückte sich zurecht, lehnte den Kopf hinten an, entschuldigte sich bei seinem +vis-à-vis+, von dem er wieder keine Antwort bekam, wenn ihn vielleicht seine Füße geniren sollten, faltete die Hände im Schoos, schloß die Augen und versuchte einzuschlafen, was er auch glücklich in demselben Augenblick zustande brachte, als der Postillon blies, der Wagen anhielt, der Conducteur den Schlag aufmachte und hereinrief, daß hier Mittag gemacht würde und die Passagiere „gefälligst aussteigen möchten“.

Der Fremde stand ohne weiteres auf, dem Rufe Folge zu leisten -- es konnte doch am Ende kein Engländer sein, denn er schien das Deutsche vollkommen gut verstanden zu haben -- trat dem Commerzienrath auf die Hühneraugen ohne sich zu entschuldigen -- es war doch am Ende einer, -- und verließ den Wagen, sein Mittagsmahl einzunehmen, während sich die Dame, als der Commerzienrath noch unentschlossen stand, was zu thun, den Wagenschlag wieder zumachen ließ, der gefürchteten Zahnschmerzen wegen. Bis er sich besonnen hatte vergingen mehre Minuten, und wie er zuletzt doch noch einmal öffnen ließ und hineinging, behielt er dort eben noch Zeit seine Table d’Hôte mit einem halben Thaler zu bezahlen und zu finden, daß die Suppe zu heiß zum Essen sei, als der Postillon auch schon wieder zum Aufbruch blies und der Conducteur mit einem „Es ist die höchste Zeit, meine Herren“ die Thür aufriß.

„Nach Tisch“, wie es Herr Mahlhuber jetzt nannte, war er gewohnt sein Schläfchen zu halten, und wenn er auch um das Essen selber gekommen, erschien ihm das nicht als genügender Grund sich auch um den Schlaf zu bringen. So alle seine frühern Vorbereitungen wiederholend, gelang es ihm diesmal wirklich seine Wagenecke zu behaupten, und erst die Sonne, die schräg durch das Wagenfenster herein und ihm gerade auf die Augen schien, weckte ihn wieder aus seinem süßen Schlummer, dem er sich wol zwei volle Stunden lang hingegeben.

„Ach dürfte ich Sie wol bitten das Fenster da in die Höhe zu ziehen?“ waren die ersten Laute, die an sein noch traumtönendes Ohr schlugen, als er erwachte, und als er etwas erstaunt um sich schaute -- denn er hatte bis dahin steif und fest geglaubt, er liege zu Hause auf dem Sopha, und wunderte sich, welches Fenster Dorothee in die Höhe gezogen haben wollte --, stieß ihn seine schöne Nachbarin leise an und setzte flüsternd hinzu: „Der Herr da drüben muß taub sein oder kein Deutsch verstehen, denn nicht allein, daß er sich weder rührt noch regt, wenn ich ihn um etwas bitte, nein er zieht auch das Fenster jedesmal ebenso schnell wieder herunter, wie ich es in die Höhe bekommen kann -- er nimmt nicht die mindeste Rücksicht auf meine Nerven.“

„Der Barbar!“ sagte der Commerzienrath, während er seufzend ihre Bitte erfüllte, er durfte sich doch nicht in eine Kategorie mit einem solchen Menschen stellen lassen. Durch diesen kurzen Wortwechsel waren aber auch die Schranken gefallen, die sich bis dahin einer Conversation hemmend in den Weg gestellt zu haben schienen. Herr Mahlhuber schielte nach seiner Nachbarin hinüber, die den Schleier jetzt in die Höhe gelegt, und wenn auch nicht mehr ganz junge, doch regelmäßige, fast hübsche Züge hatte, und sagte mit einem etwas bedenklichen Kopfschütteln (der andere Passagier schlief gerade oder hielt wenigstens die Augen geschlossen, und er konnte eine solche Bemerkung vielleicht wagen): „Ja, das Reisen ist mit vielen Unannehmlichkeiten verbunden.“

„Ih nun, das weiß ich gerade nicht“, erwiderte die schöne Nachbarin, ihr Tuch wieder von der Backe nehmend, sobald das Fenster befestigt war, „ich freue mich immer d’rauf, wenn ich einmal wieder hinauskomme; nur der Postwagen kommt Einem so langweilig vor, weil man die Eisenbahn jetzt gewohnt ist.“

„Ja!“ sagte Herr Mahlhuber. Er war noch nie auf einer Eisenbahn gefahren.

„Mir ist Reisen ein Vergnügen“, sagte die Dame.

Herr Mahlhuber stöhnte, denn das erinnerte ihn an den traurigen und ernsten Grund, der ihn aus seiner Heimat vertrieben, und er erwiderte leise und kopfschüttelnd:

„Ach ich wollte ich könnte das auch von mir behaupten, aber eine Sache hört auf ein Vergnügen zu sein, sobald sie uns einmal vom Arzte anbefohlen wird.“

„Sind Sie krank?“ fragte die Dame theilnehmend.

„Krank?“ wiederholte Mahlhuber und athmete leicht auf, denn das Gespräch betrat ein Gebiet, auf dem er sich zu Hause fühlte, „krank? -- ja und nein; krank kann man eigentlich nicht sagen, -- haben Sie schon von großen Lebern gehört?“

„Großen Lebern? Gewiß -- die strasburger sollen die besten sein, aber meine Schwägerin hat eine solche Fertigkeit darin erlangt, daß man sie gar nicht mehr von strasburgern unterscheiden kann.“

„Nein, die meine ich nicht“, sagte der Commerzienrath verlegen und blickte mistrauisch nach dem Fremden hinüber, der zwar die Augen noch immer geschlossen hielt, aber um dessen Mundwinkel er doch glaubte ein leichtes boshaftes Zucken zu bemerken, „ich selber leide daran -- meine Leber ist drei Zoll zu groß.“

„Drei Zoll? Segne meine Seele!“ sagte die Frau, „aber woher wissen Sie das so genau?“

„Ah, die Wissenschaft hat darin jetzt bedeutende Fortschritte gemacht“, fuhr der Commerzienrath rasch fort, „eine solche speckige Entartung der Leber soll in unsern Zeiten auch gar nicht selten vorkommen und durch das Anstoßen derselben an Rippen, Zwerchfell und Magen kann man ziemlich genau berechnen, welchen Umfang sie erreicht.“

Die Dame rückte etwas ängstlich auf ihrem Sitz, und der Commerzienrath fuhr fort:

„In Verbindung mit diesem Leiden steht nun, obgleich mein Arzt das immer noch bestreiten will, eine nicht unbedeutende Operation, der ich mich vor einiger Zeit zu unterwerfen hatte.“

„Eine Operation? -- aber ich bitte Sie --“

„Nun es war gerade nicht lebensgefährlich“, setzte der Erzählende rasch hinzu, da er zu fürchten glaubte, daß seine schöne Zuhörerin deshalb vielleicht Besorgnisse zeigte, „aber jeder Schnitt in den menschlichen Körper ist gewissermaßen von einer Gefahr begleitet, da man nie wissen kann, welche Folgen daraus entstehen, welche edeln Gefäße verletzt werden.“

„Ach hören Sie -- wenn es Ihnen recht wäre --“

„Es war nur eine Balggeschwulst auf dem behaarten Theile des Kopfes“, setzte der kleine Mann hinzu, nahm die Reisemütze ab und bog den Kopf gegen die Dame hinunter, „eine Balggeschwulst etwa von der Größe eines Taubeneis, sehen Sie hier -- leicht beweglich unter den Fingern und eigentlich ohne besondere Schmerzen. Das Eigenthümliche war aber, daß sie doch, wenn man lange daran drückte, wehthat; die Geschwulst blieb sich dabei ganz gleich, ob die Zunge belegt war oder nicht, wenn ich aber eine Weile gedrückt hatte, lief mir sonderbarerweise das Wasser im Munde zusammen und ich bekam dann einen höchst pikanten fauligen Geschmack.“

„Aber ich bitte Sie um Gottes Willen, hören Sie auf!“ rief jetzt die Dame entsetzt, „ich werde ohnmächtig, wenn Sie noch zwei Minuten mit solchen furchtbaren Sachen fortfahren. Was gehen mich denn Ihre Geschwülste an?“

„Aber sie ist ja operirt“, rief der Commerzienrath, der zu glauben schien, daß sie ihn noch nicht recht verstanden habe, „und eben das Zunähen da --“

„Ich schreie um Hülfe, wenn Sie nicht aufhören“, unterbrach ihn die Dame und wurde wirklich todtenbleich dabei. „Herr, ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich die ekelhaften Beschreibungen nicht mitanhören kann. Behalten Sie Ihre Lebern und Geschwülste für sich oder ich setze mich hinaus zum Conducteur auf den Bock. -- Jesus Maria, meine Nerven!“

„Darf ich Ihnen vielleicht ein wenig Eau de Cologne anbieten?“ sagte der Commerzienrath schüchtern, der solche Einwendungen gegen seine Leiden gar nicht vermuthet hatte, indem er in die Tasche griff nach seinem kleinen Flacon zu suchen, „das thut Ihnen vielleicht gut.“

„Ich danke Ihnen, ja“, sagte die Dame und streckte die Hand aus das Dargebotene in Empfang zu nehmen; Herr Mahlhuber hatte es aber selber noch nicht, und die rechte Rocktasche stak ihm so voll von verschiedenen Gegenständen: eingewickelte Semmeln, Brillenfutteral, Schnupftabacksdose und dann das verwünschte Pistol, das er heute Abend fest beschloß unten in seinen Koffer zu legen, er konnte das kleine Fläschchen gar nicht finden und begann, da die Dame den Arm noch ausgestreckt hielt, die verschiedenen Gegenstände immer ängstlicher auszukramen und neben sich hinzulegen.

„Ich begreife gar nicht“, murmelte er dabei vor sich hin, „wo die -- Dorothee -- das kleine Fläschchen anders könnte hingesteckt haben als in -- als in diese Rocktasche. Da, das hier ist eine eingewickelte Semmel -- das hier“, er nahm das Pistol aus der Tasche und legte es neben sich hin, „das hier ist --“

„Um Gotteswillen, was wollen Sie mit dem Schießgewehr?“ schrie die Dame jetzt so laut, daß der Fremde ihnen gegenüber erwachte oder doch die Augen öffnete und einen flüchtigen Blick hinüberwarf, dann aber wieder in seine frühere Stellung zurückfiel, „es ist doch nicht geladen?“

„Bewahre“, lächelte der Commerzienrath, der das Fläschchen endlich gefunden und ihr gereicht hatte, etwas verlegen und suchte, um sie selber zu überzeugen, durch den Lauf des verdächtigen Pistols zu blasen; aber vergebens blies er die Backen auf und wurde ganz roth im Gesicht.

„Es ist verstopft“, sagte er dann, entweder zu seiner oder des Pistols Entschuldigung.

„Halten Sie das schreckliche Ding nur nicht gegen mich“, rief die Dame, nichts weniger als beruhigt durch den verunglückten Versuch; „wenn es losginge....“

„Ich will Ihnen beweisen, daß es keine Gefahr hat“, sagte der Commerzienrath entschlossen, dem muthlosen schwachen Wesen gegenüber, und den Hahn aufspannend zielte er auf die ihm gegenüberstehende Hutschachtel seiner schönen Reisegefährtin.

„Um Gotteswillen, was wollen Sie thun?“ rief die Dame, jetzt wirklich erschreckt; aber sie hatte keine Zeit etwas Weiteres zu fragen, denn ein furchtbarer Schlag, der ihnen Allen das Trommelfell zu zersprengen drohte, schmetterte mit einem vor ihnen hinzuckenden Blitze durch den engen Raum des Wagens und im nächsten Augenblick schon füllte dichter undurchdringlicher Pulverdampf das Coupé vollkommen an. Die Dame stieß dabei natürlich einen gellenden Schrei aus und fiel in Ohnmacht. Die Pferde rissen in ihr Geschirr und wollten durchgehen, und Postillon und Conducteur brauchten wenigstens zehn Minuten Zeit sie zu beruhigen und wieder in ordentlichen Gang zu bringen.

Nur der Fremde, der für den Augenblick in dem entsetzlichen Pulverqualm vollständig verschwunden war, sagte kein Wort und saß um so unheimlicher und drohender in dem undurchdringlichen Qualm. -- Heiliger Gott, wenn er ihn getroffen und todtgeschossen hätte! Der Commerzienrath wagte nicht die Hand auszustrecken, den furchtbaren Verdacht bestätigt zu finden oder zu zerstreuen.

Der Wagen hielt endlich. „Ho, brrr, Gott verdamm’ mich, ob ihr stehen wollt, kopfscheue Bestien -- ho, brrr, so mein Thierchen, so ooo -- gutes Thier, so Schimmel“, tönten die Beruhigungslaute von draußen zu ihnen herein, der Conducteur sprang aus dem Cabriolet und riß den Schlag auf.

„Heiliges Kreuzdonnerwetter, was ist hier vorgegangen?“ schrie er, zurückprallend, als ihm der weiße warme Schwefelqualm entgegenschlug, der die willkommene Bahn ins Freie fand, „was ist geplatzt?“

Die Dame lag in Ohnmacht und der Commerzienrath konnte nicht antworten, denn sein ängstlicher Blick suchte durch den weichenden Nebel die lautlos dasitzende Gestalt des Fremden. Nur erst sicher wollte er sein, daß dort kein Unglück geschehen wäre, wenn er auch natürlich nicht begriff wie eine Ladung und eine so furchtbare Ladung in die für ganz harmlos gehaltene Waffe hineingerathen sein konnte. Wie sich der Nebel verzog, wurde auch das Gesicht des Fremden in der andern Ecke sichtbar, aber so unheimlich verzerrt, roth und drohend, während die Augen unter den halb zusammengekniffenen Brauen wild und lauernd vorblitzten, daß der Commerzienrath ihn schon am Arme fassen und ins Leben zurückschütteln wollte, als der Conducteur die Stille wieder unterbrach.

„Wer ist todt?“ rief er und keineswegs blos im Scherz, denn das unheimliche Schweigen im Wagen kam ihm selber verdächtig vor. „Himmelsacerment, wenn sich Jemand eine Kugel durch den Schädel schießen will, brauchte er sich doch dazu nicht auf der königlich bairischen Eilpost einschreiben zu lassen, daß Einem die Pferde noch am Ende durchgehen und außerdem Unheil anrichten? -- Das ist nun der Zweite. Nun?“ setzte er dann erstaunt hinzu, als er die drei Passagiere nach und nach durch den Qualm erkennen konnte und alle noch am Leben fand, wenn er auch des Commerzienraths +vis-à-vis+ noch immer etwas mistrauisch betrachtete -- daß die Dame in Ohnmacht lag, verstand sich von selbst. „Was zum Teufel haben Sie denn dahier angerichtet -- ach Schwerenoth“, rief er plötzlich, als sein Blick auf das neben ihm stehende Gepäck fiel, „gerade in die Hutschachtel geschossen.“

„In die Hutschachtel?“ rief die Dame entsetzt, jetzt plötzlich und ohne weitere Hülfe aus ihrer Ohnmacht emporfahrend, und der Fremde drüben wurde immer röther im Gesicht. „Heilige Mutter Gottes, mein Hut!“

„Wer hat denn aber hier im Wagen geschossen?“ rief der Conducteur jetzt mit strengerer Amtsmiene, während die Dame entsetzt über ihre Hutschachtel herfiel, den erlittenen Schaden zu besichtigen, „ich werde Sie im nächsten Postamte anzeigen. Sie da, was thun Sie mit einem geladenen Pistol in der königlichen Post?“

„Postamt anzeigen?“ rief der Commerzienrath in tödtlichem Schreck, „und des vermaledeiten Pistols wegen, gegen das ich mich aus Leibeskräften gesträubt?“

„Sie dürfen hier im Wagen gar kein Pistol haben“, sagte der Schaffner streng.

„Ich wollte ich hätte es nie gesehen“, rief der Commerzienrath in ausbrechendem Grauen; „da“, fügte er dann hinzu und schleuderte die Waffe, gar nicht an das aufgezogene Fenster denkend, mitten durch die Scheibe hinaus auf die Straße, daß die Scherben im Wagen herumflogen und auf die harte Chaussée draußen niederklirrten.

„Jesus Maria“, rief die Dame, „mein Hut!“

„Herr, die Scheibe kostet 1 Gulden 25 Kreuzer!“ rief der Schaffner.

Die Frau zog in diesem Augenblick den zu Atomen geschossenen, wunderschön verzierten und früher einmal mit Bändern und Blumen geschmückten Strohhut aus dem durchschossenen Futteral; die ganze gewaltige Ladung war schräg hindurchgegangen und hatte ihn vollständig vernichtet, daß die Stücken darumhingen, und jetzt zum ersten male wurde auch der andere Passagier in der Wagenecke laut, der plötzlich herausplatzte, als ob ihm irgendein inneres Gefäß gesprungen sei, in demselben Moment aber auch fast einhielt und nun so heftig zu nießen und zu husten anfing, daß er ganz blau im Gesicht wurde und der Commerzienrath wirklich für einen Augenblick sein eigenes Elend vergaß, nach dem Manne hinüberzuschauen.

„Und hier das ganze Polster ist zerschossen!“ rief jetzt der Postbeamte, der die Hutschachtel fortgerissen hatte, nach dem zugefügten Schaden zu sehen, „Herr, Sie werden eine Heidenrechnung bekommen.“

„Mein Hut, du lieber Gott, mein Hut!“ jammerte dabei die Dame, „was setz’ ich jetzt auf, was setz’ ich auf?“

„Ich will ja gern Alles bezahlen“, stöhnte der Commerzienrath in völliger Verzweiflung, „wenn Sie mir nur sagen wollen was es kostet.“

„Schockschwerenoth“, rief der Schaffner plötzlich nach seiner Uhr sehend, „jetzt haben wir hier schon sieben und eine halbe Minute getändelt und ich komme zu spät auf die Station -- nehmen Sie Ihren Rock dahinein, Madamchen -- werfen Sie den Bettel auf die Straße, er ist doch nicht mehr zu brauchen; so“, sagte er dann, die Thür zuschlagend und seinen alten Platz wiedereinnehmend, „fahr zu, Schwager!“

„Da unten liegt das Schießeisen noch“, sagte dieser, mit einem schmunzelnden Seitenblick und dem linken Daumen über die Achsel deutend, „sollen wir’s liegen lassen?“

„Was geht dich der Quark an? fahr zu!“ lautete die barsche Antwort des verantwortlichen Postführers, die Peitsche fuhr aus und auf das Handpferd nieder, und dahinrasselte das Geschirr wieder in scharfem Trab, das Versäumte nachzuholen.

Der Commerzienrath hatte indessen einen schweren Stand im Wagen, die erzürnte und unglückliche Dame zu beruhigen, die wunderbarerweise an dem Hute zu hängen schien, als ob es ein Stück ihrer selbst gewesen wäre. Sie weinte und zankte und betrug sich etwa wie ein unartiges Kind, dem man irgendein Spielzeug zerbrochen, und das sich nun weder will trösten noch beruhigen lassen. Zuletzt und kurz vorher ehe sie die nächste Station erreichten, verstand sie sich endlich dazu, den höchstmöglichen Satz für Hut und Schachtel anzunehmen, was ihr der Commerzienrath, froh, so gut wegzukommen, gleich an Ort und Stelle auszahlte, aber auch dann noch keinen Frieden hatte, denn, damit in Ordnung, fielen ihr plötzlich wieder ihre bis dahin ganz außer Acht gelassenen Zahnschmerzen ein, gegen die das zerbrochene Fenster nicht mehr geschlossen werden konnte, und es zeigte sich jetzt, daß das unglückselige Pistol nach allen Seiten hin Zerstörung und Verwirrung angerichtet hatte.

Der andere Passagier dagegen saß so ruhig und regungslos wie immer in dieser Confusion und sagte kein Wort; er mußte jedenfalls stumm, vielleicht gar taubstumm sein, oder wenigstens keine Silbe von ihrer Sprache verstehen.

Aber dem Commerzienrath gingen andere Dinge im Kopfe herum, als sich um den geheimnißvollen Fremden zu kümmern. Glücklicherweise kannte ihn Niemand, denn mit der Post war er früher nie in Berührung gekommen und eingetragen nur unter dem anspruchlosen Namen Mahlhuber. Die paar Thaler, die es ihm gekostet hatte, betrachtete er als Lehrgeld für spätere Zeit, und pries sich immer noch glücklich so billig davongekommen zu sein. Auf der nächsten Station bezahlte er auch die Scheibe mit 1 Gulden 25 Kreuzer und Polster und sonstige Beschädigung des königlichen Postwagens mit 3 Gulden 30 Kreuzer, dem er natürlich ein nicht unbedeutendes Geschenk für Conducteur und Postillon beifügte, dieser Schweigen zu erkaufen. Er dankte auch seinem Gott, als er endlich Gelegenheit bekam, auf seinem schon früher bestimmten Anhalteplatz einige Minuten vor 9 Uhr Abends aussteigen zu dürfen, der Gesellschaft, in der er sich nicht mehr getraut hatte ein Wort zu sagen, wie der unangenehmen Erinnerung enthoben zu sein. Was für ein Glück, daß er Dorothee’s Vetter nicht mitgenommen hatte.

An Ort und Stelle angelangt und nachdem der Schaffner sein Gepäck aus der Schoßkelle genommen, um das sich vor dem Postgebäude Niemand weiter zu kümmern schien, nahm er Reisesack und Schirm, Stock und Sitzkissen aus dem Wagen, drehte sich dann noch einmal um und sagte, mit einer verbindlichen Verbeugung nach dem Innern des Wagens zu, die von der Dame mit einem leise gemurmelten „Gott sei Dank“ begleitet wurde:

„Angenehme Reise, meine Herrschaften.“

„Gute Nacht, Herr Commerzienrath“, sagte der Fremde, der bis dahin noch keine Silbe gesprochen, und der also Betitelte stand, seine Reiseutensilien in beiden Händen, wirklich mit halbgeöffnetem Munde vor lauter Ueberraschung da; aber der Schaffner warf in dem Augenblick den Schlag wieder zu, die Pferde waren vorgespannt und fortging’s mit schmetterndem Horngetön durch die stillen Straßen des kleinen Fleckens über das rauhe Pflaster hin, was die Thiere laufen konnten.

 

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