Meknès es Zeitoun

© Willi Schnitzler     

Meknès unter den Oliven, wie die Stadt von den Berberstämmen der Meknassa genannt wurde, kommt in Sicht. Sie liegt am Rande des Mittleren Atlasgebirges.

Unterwegs MeknesObwohl über der Stadt ein wolkenloser blauer Himmel glänzt, bin ich auf den ersten Blick entsetzt. Wer einmal an diesem Bahnhof, dem trostlosesten aller mir bekannten Bahnhöfe, ausgestiegen ist, wird mir das nachempfinden können. Als ich aus dem Schlagschatten des Gebäudes in die gleißende Helligkeit trete, fällt er mir sofort auf, dieser rippendürre Hund, der mich mit hungrigen Augen aus verfilzter Wolle anblickt; der kleine Jungen daneben, so dreckig wie die Hose eines Automechanikers, der schläft; das Haus, aus dem eine graue Brühe sickert; der lautlose Vogelschwarm auf dem Dach. Selbst die Entfernung kann das Bild nicht schminken. Alles ringsum ist dermaßen elend, dass man am liebsten davonlaufen möchte. Doch eines fällt auf: niemand begrüßt mich oder scheint sich auch nur im mindesten für mich zu interessieren, denn unerklärlicherweise fehlten die sonst überall präsenten, miteinander wetteifernden Führer.

Von welchem Standpunkt man es auch betrachtet, die Straße gehört zu den hässlichsten meiner kleiner Welt. Die Bürgersteige sind so schmutzig wie die Leute, die auf ihnen stehen oder sitzen, Leute, die einen verkohlten Auspuff vor sich liegen haben, Leute, die in einer Öllache stehen, Leute, die ihre Hosen und Hemden und Kleider aus einer Kohlengrube gezogen haben mögen. Vor einer Garage liegen zwei Fahrräder wie nach einem heftigen Liebesakt aufeinander. Es sind Damenfahrräder.

Es ist ein deprimierender Samstagnachmittag.

Nach dem Dreck, dem Lärm, der scheinbaren Unfreundlichkeit der Stadt falle ich dann auch noch ausgerechnet dem Hotel Continental anheim, das in der Tat dieser trostlosen Straße würdig ist und meine Stimmung noch weiter drückt. Ich nehme ein Zimmer bei einem Mann, der einen roten tarbusch trägt, weil ich einfach keine Lust mehr habe, weiterzusuchen, doch in Anbetracht seines Aussehens frage ich mich, ob es richtig ist, hier zu bleiben. Liegt es an der Kleidung, die schon Jack Nicholson getragen haben mag, als er ein anderes Hotel in Angst und Schrecken versetzte? Liegt es an dem großen eleusinischen Kopf? Der Mann hat auf eigentümliche Art den Kampf gegen das Altern verloren, grinst wie ein Wolf aus einem schrecklichen Märchen über kapitalen Zähnen und reicht mir seine Hand, die so schlaff ist wie eine alte, leicht verfaulte Aubergine. Und während ein Auge auf meinem Pass ruht, blickt das zweite mit dem stets schlaffen Lid, zudem noch in einer gänzlich anderen Farbe, grundlos aus dem Fenster; dann deutet er mit dem Fensterauge auf die breite Treppe, die nach oben führt.

Mir ist ganz schwindlig. Es ist nicht schwer, sich einen Film vorzustellen, in dem er den Bösewicht spielt. Es ist nicht schwer, seine Bande von Halunken heraufzubeschwören, die im Licht der Scheinwerfer einen friedliebenden Reisenden drangsalieren. Ich höre Dinge, von denen ich den Eindruck habe, dass ich sie gar nicht hören soll, wieder und wieder, und stehe plötzlich in einer Welt, die mit der meinen nicht mehr synchron läuft. Dunkle breite Gänge durchziehen das Haus. Es erinnert an ein Gefängnis, an eine Besserungsanstalt. Gitterstäbe sucht man vergeblich, das ist aber auch alles, was fehlt. Von diesem Ort habe ich schon einmal alpgeträumt, denke ich und weiß sofort, was mich am Ende des hohen Korridors erwartet, der bis auf eine Handvoll Fliegen gespenstig leer ist.

Es riecht so muffig, als sei hier ewig nicht gelüftet worden. Es ist ein betrübliches, mit wenigen Schritten zu durchmessendes Zimmer, in das ich trete, ein Zimmer, das geradezu zum Selbstmord einlädt, und ich fühle mich für vierundachtzig dirham dem Weltende verkauft. An und für sich wäre der Raum schon trostlos genug gewesen, aber die Schmuddeligkeit gibt ihm darüber hinaus etwas geradezu Abstoßendes. Achtlos hingeworfen liegt eine zerfranste Flickendecke auf dem Bett, das aus Materialien der unglücklichsten Epochen der späten Kreidezeit zusammengezimmert zu sein scheint. Von schlampiger Putzfrauenhand ist der Steinboden von Schmutzspuren gesäubert worden. Es ist hier so feucht, dass ich an jeder Kachel der Waschgelegenheit Asseln entlanglaufen sehe. Hier bekommt die Theorie von der Panspermie, wonach das Leben auf der Erde durch Keime von anderen Planeten entstanden sei, ein neue Bedeutung.

Ich sehe mein entsetztes Gesicht im Spiegel, den jemand am oberen Rand irgendwann einmal mit Pflaster, das sich mit der Zeit zu lösen beginnt, ausgebessert hat. Unwirsch hängt über einem baufälligen Schränkchen, in dem an gewissen Tagen dem Anschein nach das Essen der Hauskatzen gelagert wird, ein Bild, auf dem ein übel gelaunter Künstler das Porträt eines schielenden Mannes gemalt hat. Insektenleiber knirschen unter meinen Füßen. Die dünne Spinne, die sich den Faden hoch müht, hält inne. Die düsteren Töne Rachmaninovs, die sich in meinem Kopf bilden, scheinen den Umständen angemessen.

Panorama Meknès, Josep Renalias, Wikimedia Commons

Die Vorstellung, übers Wochenende hier bleiben zu müssen, behagt mir gar nicht.

Ich fliehe rasch aus dem trostlosen Zimmer und gehe voller Verzweiflung links aus der Tür und immer geradeaus. Es ist warm; es hätte Juni oder Juli sein können, dabei ist es erst Mitte März und die Menschen schleppen großartige Schatten hinter sich her.

Ich gehe und gehe, bis ich zu einem Kreisverkehr komme, der mich in die alte Stadt schickt, die ich so dringend gesucht habe. Als ich über den Fluss Boufekrane marschiert bin, der die beiden Stadtkerne voneinander trennt, drängt sich plötzlich alles zusammen. Ich passiere unzählige Cafés und Salons de Thé, die voller Männer stecken, die ihre Schnauzbärte wie Schutzschilder tragen und wie die Weiber tratschen; zu bereden gibt es immer etwas. Sie stehen auf, spazieren ein kleines Stück durch die Gassen, setzen sich wieder auf die gebrechlichen Stühle ihres Cafés, starren in den Fernseher, trinken ihren schai bi-n-na’na oder qahwa ‘arabija, legen sich schlafen – darüber werden sie alt. Wenn es stimmt, dass überflüssige Organe verkümmern, dann werden die Kaffeehausmänner in fünf bis sechs Generationen ohne Beine wieder geboren werden. Manche bewegen sich so vorsichtig durch den Raum, dass man meinen könnte, sie gingen Geistern aus dem Weg.

Frauen in halblangen Kleidern drängen in die Geschäfte und bevölkern die erstaunlich hohen Trottoirs.

Ich komme zum einst prunkvollsten Palast der Stadt, jener gigantische Dar-el-Makhzen, des legendären, größenwahnsinnigen Moulay Ismail: jener Sultan, der seine Sklaven quälte wie kein zweiter, seine Kamele verhätschelte wie kein anderer und Meknès mit seinem eigenen Schicksal verband. Mit unbeschreiblicher Grausamkeit bestrafte er seine Untertanen. Sein Motto: „Meine Untertanen sind wie Ratten in einem Korb, und wenn ich den Korb nicht schüttele, werden sie sich nagend befreien!“

Mithilfe von dreißigtausend Sklaven und dreitausend gefangenen Christen, die Opfer barbarischer Piraten geworden waren, ließ er Paläste, Moscheen, Gärten, Bassins, Getreidespeicher und Stallungen, in denen zwölftausend Pferde Platz fanden, bauen, ohne dass es ihm gelang, seinen ganzen Traum zu erfüllen, aber was macht das schon bei dem Übermaß. Die Getreidespeicher haben die Dimension von Kathedralen und sind von sieben Meter dicken Mauern umgeben, die einer zwanzigjährigen Belagerung standhalten sollten. Ein durchdachtes System von Wasserkanälen sorgte für Kühlung. So entstand die gewaltige Ville Impériale. Im ganzen Land ließ er sechsundsiebzig Festungen bauen und vertrieb mit seiner hundertfünfzigtausend Mann starken Armee die Engländer aus Tanger und die Spanier aus Larache und Mehdia. Selbst die Türken konnte er im Osten des Reiches aufhalten. Der Aufbau eines schlagkräftigen Heeres war seine Obsession.

Zu Beginn seiner Regentenzeit bildete er aus sechszehntausend schwarzen Sklaven, die er zu einem Großteil aus dem Sudan erwarb, eine Streitmacht tüchtiger Soldaten. Mit perverser Weitsicht besorgte er seinen schwarzen Kämpfern schwarze Frauen und so baute er eine Art Gestüt für Menschen, haras genannt, auf, damit seine Truppe kontinuierlich zunahm. Mit zwölf bekamen die Jungen Unterricht im Waffenhandwerk und wurden vier Jahre später schon ins Heer eingegliedert. Es heißt, dass seine Armee, die als „Schwarze Garde“ in die Geschichte einging, auf diese Weise in vierzig Jahren auf mehr als hunderttausend Mann anwachsen konnte. Die Mädchen wurden mit den jungen Rekruten verheiratet, nachdem man sie mit ihren Hausfrauenpflichten vertraut gemacht hatte.

Und er selbst hatte seinen Harem und ein Viertel der Einwohner dürfte noch heute von ihm abstammen, hatte er doch achthundertsiebenundsechzig lebende Kinder. Dieses Adjektiv ist notwendig, da er die meisten seiner Töchter nach der Geburt erdrosseln ließ.

Seinen Harem füllten zwar Hunderte von Frauen, doch nicht die Frau, die er am stärksten begehrte. Er bat in jenen Tagen den Sonnenkönig um die Hand seiner verwitweten Tochter, der Prinzessin von Conti, bekannt als die schönste Prinzessin Europas. Die Geschichte erzählt auch, dass der französische König sie nur unter der Bedingung freigegeben hätte, wenn Moulay Ismail und sein Volk zum Christentum konvertiert wären. Nun, so weit dazu, aber der Sonnenkönig ließ sich nicht lumpen und schenkte ihm dann doch noch einige wunderbare Pendeluhren.

Das Fayence-Sternbild des berühmtesten Tors Marokkos, Bab el-Mansour, das in die Ville Impériale führt, leuchtet in der untergehenden Sonne. Es mag so stehen geblieben sein, wie es einst vor Jahrhunderten gebaut wurde. Das mächtige Hauptportal wird von einem leicht zugespitzten Hufeisenbogen eingefasst, der seinerseits von kleineren, vorspringenden Portalen gesäumt wird. Ein in kufischen Buchstaben verzierter Inschriftenfries, der mit den Worten „Ich bin das glückliche Tor. Die Freude steht auf meiner Stirn wie der Mond am Himmel“ beginnt, liegt unter gezackten Zinnen.

Es ist schwer zu glauben, ehrlich gesagt, ob ein Tor, das Dinge gesehen hat, die andere Tore erschaudern lassen, glücklich sein kann, denn die Zeilen täuschen darüber hinweg, dass früher, dort, wo die Worte glänzen, Gerichtsverhandlungen abgehalten und die bluttriefenden Köpfe der Hingerichteten ausgestellt wurden. Mansour war ein zum Islam konvertierter Christ und so wundert es nicht, dass das Tor auch Mansour el-Aleuj, das Tor Mansours des Abtrünnigen, genannt wird …

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