Ein Ungar im neuseeländischen Exil

© Willi Schnitzler    

Ein UngarIch sah weder die eine noch die andere Insel, wartete eine Weile, in einer alten Zeitung blätternd, die im Rinnstein gelegen hatte, an einer breiten, kaum befahrenen Straße am Ortsausgang von Whakatane, bevor ein Exilungar und sein altes Auto mich einluden, mitzukommen.

Beim Zuschlagen der Autotür verdrückten sich zwei schwarze Katzen durch ein Loch im Lattenzaun. Ehe wir losfuhren, nahm der Mann seine Brille von der Nase, wischte sie ab und setzte sie wieder auf. Ohne Hilfsmittel war er blind wie eine Wand, kein Wunder, dass er schon jetzt gefährlich dicht am Lenkrad saß. Was für ein merkwürdiger Mensch er war! Ein unsorgfältig gekleideter Mann mit grauem Haar, die mächtigen Koteletten wie Brikettstücke hochkant an den langen Ohren angelehnt. Sein Haarschnitt stammte von einem Friseur, der offensichtlich noch nicht lange dabei war, sich das Saufen abzugewöhnen; lange Strähnen klebten wie Gummihandschuhe an seinem Kopf.

Salzfarbene Bartstoppel knisterten wie welkes Laub, wenn er mit dicker Hand über sein Kinn fuhr, das aussah wie ein Hintern und mürrisch den großen Mund trug. Aus seinen großen Ohren lugten lange Haare hervor, die silbrig glänzten und in Richtung Tür unterwegs waren. In seiner Art, sich zu kleiden, lag der Geist einer vergangenen Epoche. Der braune Anzug aus Chevron, in dem er eingezwängt steckte und den die fünfziger Jahre schon angeschaut hatten, war viele Jahre zu klein, darunter trug er die glänzende Weste des Trompeters einer Jazzkapelle. Er gehörte wohl zu jenem Menschenschlag, der es strikt ablehnt, irgendetwas wegzuwerfen, das noch einigermaßen tragbar ist. Er bevorzugte Nylonhemden der ungebügelten Sorte, weiß wie Speck, und eine schmale Krawatte in mattem Silber schnürte den dicken Hals zu. Alles, was er besaß, führte er in dem alten Auto mit – ein Augiasstall, den Herkules nie und nimmer an einem Tag sauber bekommen hätte, ein Panoptikum von Ramsch.

    

Der Ungar fuhr bedächtig vom hohen Bordstein auf die Straße zurück, haute nach einem knappen Kilometer krachend mit steifer linken Hand den zweiten Gang rein und versuchte ein Gutteil der Wegstrecke die anderen Gänge, die das Auto nolens volens haben musste, zu schonen. In unregelmäßigen Abständen, immer wenn eine Kurve im Weg stand, pfiffen die Reifen in den schmelzenden Asphalt hinein. In seinem Gesichtsausdruck, der von der tiefstehenden Sonne erhellt wurde, spiegelte sich die Erinnerung an einen verunglückten Tag. Der Mann schwitzte in seinen Anzug hinein, Schweißperlen sammelten sich auf der Stirn, doch er wischte sie nicht ab, öffnete lediglich die oberen Knöpfe seines Hemdes, als wolle er die darin eingesperrten Sorgen in die Freiheit entlassen, die er kurze Zeit später preisgab. Sein Englisch war unverkennbar osteuropäischer Natur, als mich plötzlich sein Gesprächszug überfuhr. Nicht allzu oft gelang es dem Emigranten, einen Satz ohne das für ihn typische qualifizierende Adverb zu beginnen, wenn er die Fehlleistungen bestimmter Politiker im Lande erörterte und von David Lange und Geoffrey Palmer sprach, als würde er sie persönlich kennen. Im Innern brodelte es und gab den Augen Befehl, den seltsamen Zorn mitzuteilen, der dieses wilde böse Funkeln verursachte. Unter seiner Knollennase kaute er unendlich lange Sätze und hörte nicht auf, über die faulen „Kiwis“ herzuziehen oder von den Kindern und der Frau zu erzählen, die er in Ungarn zurückgelassen hatte.

„Sind etwas ganz Besonderes“, grunzte er und kniff das linke Auge bis fast zur Hälfte immer dann zu, wenn er von ihnen sprach. Das letzte Lebenszeichen, ein Brief, lag sieben Jahre zurück und auf dem Kopf vorne auf der Ablage. Ein anderes Foto zeigte ihn, schwarz-weiß und gezwungen lächelnd, wie er einen buckligen Kinderwagen durch die Straßen Szegeds schob, das trotz des Sommertages in Hoffnungslosigkeit versank. Obwohl das Bild das Mosaikrelief der Jahre trug, schien er ein gutaussehender Mann mit dichtem Lockenhaar und mächtigem Schnurrbart gewesen zu sein. Doch er hätte nie über den Schatten ihres Vaters springen können, der, so schien es, Karriere in der Administration gemacht hatte. In seiner ungarischen Zeit hatte er Schriftsteller oder Arzt werden wollen, schließlich war er Handelsvertreter geworden. Ich dachte bei mir, er hätte Nähmaschinen verkaufen können oder irgendetwas kleineres. Autos vielleicht nicht, das traute ich ihm nicht zu, als ich heimlich, mich vorne festhaltend, seinen Kamikaze-Fahrstil verwünschte und mich nebenbei fragte, was dies alles mit „heiligem Wind“, der Bedeutung von Kamikaze, zu tun haben könnte. Hin und wieder kurbelte er das Seitenfenster herunter und spuckte gelben Schleim in das satte Gras am Rand der Straße, das sich nach kürzlichem Regen langsam wieder aufzurichten begann. Das Auto, dem die Hälfte fehlte, schrie verzweifelt, der Motor heulte mitleiderregend, die Bremsen quietschten zur Verzweiflung der mitfahrenden Ohren, kein Wunder, denn ich konnte aus einem ganz bestimmten Winkel die Straße unter mir durch ein Loch betrachten, das so groß war wie eine Kinderfaust. Das dem Auto entlockte Wehgeschrei schien der Ungar nicht wahrzunehmen, seine Ohren, so groß wie Seerosenblätter, hatte er bloß zu dem Zweck, den großen schwarzen Filzhut nicht ins Gesicht rutschen zu lassen. Ich fragte mich, wie sie so auffallend werden konnten? Hatte er sie regelmäßig gegossen? Wenn nicht, muss seine Mutter bei der Geburt Höllenqualen gelitten haben. Dann und wann suchte er mit seinen kleinen, durch die Brille stark vergrößerten Augen, die aussahen, als schwömmen sie in einem kleinen zweigeteilten Aquarium (ich ertappte mich dabei, nach Fischen zu suchen, die sich im Gestrüpp der dicken Augenbrauen versteckt hielten), die Straße nach Informationen über Topographie und anderem Unsinn ab. Auf der Fahrt begegneten wir, sich die Kurven entlangquälend, einem zum Bersten gefüllten Kleinlaster, überfrachtet mit einem halben Leben. Da hatte jemand seine Zelte für immer abgebrochen, war mit unbekanntem Ziel verzogen.

Als wir Opotiki erreichten und der Ungar, vom Knirschen der Reifen und Knacken der Gangschaltung begleitet, abrupt am Rande der breiten Straße anhielt, dämmerte es bereits. Ein Busch voll durchsichtiger Fliegen explodierte vor unseren Augen, während wir hinter schwarzen Auspuffgasen zum Stehen kamen und eine Straßenlaterne sich von selbst anzündete. Eine Weiterfahrt nach Gisborne kam für den alten Mann trotz lauten Nachdenkens nicht mehr in Frage, denn ein Stück weiter an der Straße lockte wie eine Einladung die matte Leuchtschrift eines Motels. Er war ein ungewöhnlicher Mensch – genauso sonderbar wie jemand, der sein Fahrrad von rechts bestieg – und im Begriff sich holpernd zu verabschieden, als ich schon, froh, dem Teufel noch einmal von der Kiepe gesprungen zu sein, meine Schritte dorfauswärts lenkte.

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